Heft 
(1894) 82
Seite
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Politische Rundschau.

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Blätter die Wahlcampagne für den revolutionären Kandidaten Gärault-Richard mit maßloser Heftigkeit unter der Voraussetzung geführt, daß ihr Genosse, der wegen schwerer Beleidigung des Präsidenten der Republik eine einjährige Gesängnißstrase verbüßt, nach vollzogener Wahl zum Deputirten unverzüglich entlassen werden würde, so sahen sie sich in ihren Erwartungen getäuscht. Nachdem der Ministerrath sich dahin schlüssig gemacht hatte, dem Anträge auf Haftentlassung entgegenzutreten, stellte der Conseilpräsident am 10. Januar in der Sitzung der Deputirtenkammer die Vertrauensfrage, worauf der Antrag des' socialistischen Abgeordneten Millerand mit der unter den obwaltenden Verhältnissen immerhin beträchtlichen Mehrheit von 309 gegen 218 Stimmen abgelehnt wurde. Hatten die ultraradicalen Blätter bereits angekündigt, daß das ablehnende Verhalten der Regierung deren Sturz herbeiführen würde, so mußten alle Freunde der Ordnung es mit Genugthuung aufnehmen, daß das Ministerium Dupuy siegreich aus diesem parlamentarischen Kampfe hervorgegangen war. Die Opposition nahm jedoch am 14. Januar den Kampf wieder auf, indem der socialistische Abgeordnete Millerand nunmehr wegen des den Eisenbahngesellschaften günstigen Beschlusses des Staatsrathes über die Zinsgarantie für die Orloansbahn und die Compagnie du Midi interpellirte, nach­dem der Bautenminister Barthou, nicht ohne an seine politische Zukunft zu denken, ans Anlaß desselben Beschlusses seine Entlassung genommen hatte. Die Ablehnung der Priorität für die vom Conseilprüsidenten Dupuy angenommene Tagesordnung, in der die Kammer ihre Achtung vor dem Principe der Trennung der Gewalten, also auch für die Entscheidung des Staatsrathes aussprechen sollte, veranlaßte das Ministerium, seine Entlassung einzureichen.

Obgleich der Präsident der Republik, Casimir-Perier, allem Anscheine nach durch das Votum der Deputirtenkammer nicht betroffen wurde, hat er doch zur allgenieinen Ueberraschung seine Demission genommen und in einer an die beiden parlamen­tarischen Körperschaften gerichteten Botschaft die Gründe für sein Verhalten dar­gelegt, indem er insbesondere betonte, daß ein Kamps gegen das parlamentarische Regime und gegen die staatsbürgerlichen Freiheiten ausgebrochen wäre, in welchem er nicht genügende Unterstützung gefunden habe. Der Rücktritt Casimir-Perier's mußte um so größeres Bedauern erregen, als der lautere Charakter dieses Staats­mannes über jeden Zweifel erhaben war. Auch lag die Gefahr nahe, daß nun­mehr die radicale Strömung sich entschiedener geltend machte. Nur wäre es wohl verfehlt, die Präsidentschaftskrisis in dem Sinne aufzufassen, als ob nunmehr der Niedergang der republikanischen Einrichtungen in Frankreich unvermeidlich wäre. Vielmehr darf im Interesse der friedlichen Entwicklung Frankreichs gehofft werden, daß auch diese Krisis ohne schwere innere Verwicklungen überwunden werden wird.

Bei der am 17. Januar von den zur Nationalversammlung in Versailles vereinigten beiden Kammern vollzogenen Wahl des Präsidenten der Republik hat im zweiten Wahlgange Felix Faure, der Marineminister im Cabinet Dupuy, mit 430 gegen 361 Stimmen über den radicalen Parteiführer Brisson, den Präsidenten der Deputirtenkammer, gesiegt. Hätte die Wahl Brisson's einen bedenklichen Erfolg der radical-socialistifchen Richtung bedeutet, so durfte die Ernenuuug Faure's auch vom Gesichtspunkte der internationalen friedlichen Beziehungen der französischen Republik mit Genugthuung begrüßt werden. Der Umstand, daß der neue Präsident der Republik den radicalen Deputirten Bourgeois mit der Bildung des Ministeriums beauftragte, konnte nur als eine Konsequenz der von der Deputirtenkammer be­schlossenen Tagesordnung, durch die das frühere Cabinet gestürzt wurde, angesehen werden. Auch in Frankreich werden die socialistischen Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die für das Jahr 1900 geplante Pariser Weltausstellung wird sich über­dies als ein Ablenkungsmittel für Utopien erweisen, so daß die republikanische Staatsform kaum gefährdet erscheint.