Heft 
(1894) 82
Seite
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Literarische Rundschau.

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bangem Athem hielt, ist nur Gras Kaunitz." Friedrich Martens, der im amtlichen Aufträge die Geschichte der russischen Diplomatie schreibt, gesteht ein:Seit 1755 rieth der russische Hos der österreichischen Kaiserin dringend zu einem Angriff aus den König von Preußen und versprach ihr seine bewaffnete Unterstützung mit einem Truppencorps von 80 000 Mann"; und der neueste französische Darsteller der diplomatischen Verhandlungen von 1756, der Herzog von Broglie, sagt in einer kürzlich in derUevno ä68 äeux L1onä68" (1. December 1894) veröffentlichten Ab­handlung, daß der Versailler Tractat trotz seiner defensiven Form doch einen Offensivkrieg in ganz nahe Aussicht stellte. Der Vertrag, meint er,roch nach Pulver".

Diese iu der Geschichtsforschung ungewöhnliche Einmüthigkeit ist jetzt durch­brochen: der Verfasser der vortrefflichen Biographie Scharnhorst's, ein Forscher von großen: Scharfsinn und sreimüthigster Kritik, Max Lehmann, hat vor Kurzem eine kleine Schrift veröffentlicht, in der er die jetzt herrschende Ansicht, die er kurzweg eine Legende nennt, völlig oder doch fast völlig auf den Kopf stellt. Er bestätigt zwar die offensiven Pläne der Kaiserin Maria Theresia, aber er leugnet, daß sie bei der zweifelhaften Haltung Frankreichs und der Unsicherheit der russischen Hülse den preußischen Staat mit unmittelbarer oder naher Gefahr bedroht hätten; er be­hauptet, daß vielmehr Friedrich selbst den Krieg von 1756 offensiv begonnen habe, zu dem Zwecke, sich Sachsens und Westpreußens zu bemächtigen.

Ich möchte gleich von vornherein einem Mißverständniß Vorbeugen, das mir bei Aeußernngen über die Schrift, welche durch die schneidende Schärfe ihrer Be­weisführung vielfaches Aussehen erregt hat, hier und da begegnet ist. Lehmann, wie wir nach dem Tone fast noch mehr als nach dem Inhalt seiner Schrift ur- theilen dürfen, gehört nicht gerade zu den Verehrern König Friedrichs; schmückende Beiwörter erhält nur Maria Theresia, dielandesmütterliche", dieweise"; allein man würde doch irren, wenn man annähme, daß er dem Könige aus den Erobe­rungsabsichten, die er ihm zuschreibt, etwa einen sittlichen Vorwurf machen wolle. Für Westprenßen hält er einen besonderen Nachweis der Nothwendigkeit dieser Er­werbung offenbar für unnöthig; was aber Sachsen betrifft, so weist er mit Recht darauf hin, daß die sächsische Grenze sich damals der preußischen Hauptstadt bis aus sieben Meilen näherte, und erinnert sehr treffend daran, daß auch die großen Deutschen im Rathe König Friedrich Wilhelm's HI. in den Tagen des Wiener Kongresses die Annexion Sachsens für unumgänglich nothwendig ansahen. Lehmann findet hierin die stärkste Rechtfertigung der Absichten Friedrichs;Sachsen," meint er mit glücklichem Ausdruck,mußte entweder Preußens Freund oder durste über­haupt nicht sein" (S. 87). Wenn Lehmann die ihm anscheinend nicht sympathische Politik Friedrich's so unbefangen beurtheilt, so haben auch wir unsrerseits um so mehr die Pflicht, seine Beweisführung mit gleicher Unbefangenheit zu würdigen.

Lehmann geht aus von einer Urkunde, welche ihm unter den Kundgebungen des fridericianischen Genius als die großartigste erscheint: dem politischen Testament König Friedrich's von 1752. In diesem hochwichtigen Schriftstücke, dessen Veröffent­lichung schon vor Jahren Ranke beanstandet und das Auswärtige Ministerium Preußens neuerdings wieder verhindert hat, obgleich sein Inhalt im Wesentlichen längst nicht mehr unbekannt ist, findet sich ein Kapitel mit der AufschriftUevsrios politi^uM", in welchem König Friedrich, um dem Mangel des preußischen Staates an innerer Stärke abzuhelsen, die Nothwendigkeit weiterer Gebietsvergrößerungen erörtert und aus die Erwerbung von Sachsen, Westpreußen und Schwedisch-Pommern hinweist. Auch Rauke und Koser haben diese Auszeichnungen gekannt, bestreiten aber deren Bedeutung für den Ursprung des siebenjährigen Krieges, da König Friedrich selbst seine Gedanken nur alspolitische Träumereien" bezeichne und ihre mögliche Ver­wirklichung nur unter Voraussetzungen erwartete, von denen im Jahre 1756 auch nicht eine zutras. Lehmann seinerseits sucht dagegen nachzuweisen, daß König Friedrich in jenem Testamente für seine Nachfolger zwar eine Eroberung Sachsens

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