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Literarische Rundschau.
dargestellt. Der zweite Abschnitt ist einer Winterreise in der Montblanc-Gruppe und den Grätschen Alpen gewidmet. Die Besteigung hoher Schneeberge im Winter gewahrt nicht nur in landschaftlicher, sondern auch in wissenschaftlicher Hinsicht einen eigenen Reiz; denn die Kenntniß des Hochgebirges wird erst eine vollständige, wenn Sommer- nnd Winterphysiognomie desselben mit einander verglichen werden können. Daher muß man dem Verfasser dankbar sein, daß er den erhöhten Mühen und Gefahren sich unterzogen hat, wie sie mit der im Monat Jannar ausgesuhrten Besteigung des Grandes Jorasses und des 4061 Meter hohen Gipfels vom Grand Paradis verbunden gewesen sind. Mit gespannter Theilnahme folgt man dem einsamen Wanderer und sieht ihn Schwierigkeit nach Schwierigkeit glücklich überwinden.
Aus dem Wege zum Grand Paradis liegt in einer Höhe von 2750 Metern das Refuge Vittorio Emmanuele, welches von dem italienischen Alpenclub zum Andenken an den ersten König von Italien im Jahre 1884 errichtet worden ist. In diesem Gebiete pflegte der ritterliche Fürst mit Vorliebe zu jagen, da die Gruppe des Grand Paradis die einzige im weiten Alpenterrain ist, wo Steinböcke noch Vorkommen. Die Zufluchtshütte ist so geräumig und gut eingerichtet, daß der Verfasser in das dort ausliegende Fremdenbuch die treffende Bemerkung einschreiben durste: „Für einen König ist dies eine Zufluchtsstätte, für gewöhnliche Sterbliche ein Palast."
Die hier geschilderte Ersteigung des Grand Paradis bietet noch ein besonderes und gänzlich neues Interesse, weil es eine Winterb esteigung in der Nacht war. Güßfeldt verließ das Refuge Vittorio Emmanuele mit erprobten Führern kurz vor Mitternacht und erklomm die letzten 1300 Meter bei sternklarem Himmel, ohne Ruh' noch Rast, durch bittere Kälte empordringend; nur die Strahlen des Vollmonds erleuchteten den beschwerlichen Pfad.
Im dritten und Hauptabschnitt schildert der Verfasser den Montblanc, den er von seinen verschiedenen Seiten her erstiegen hat, in mustergültiger Weise. Seine Beschreibung dürfte die beste und vollständigste unter allen sein, welche die alpine Literatur besitzt; sie ragt in ähnlicher Weise daraus hervor, wie jener höchste Berggipfel Europa's die anderen Gipfel der Alpen überblickt.
Nach einem lehrreichen historischen Rückblick, wobei die Verdienste des Genfer Gelehrten Saussure und die erste heldenmütige Ersteigung des Montblanc durch den Chamoniarden I. Balmat im Jahre 1786 gewürdigt werden, wird die Umgrenzung und Gestalt der Montblanc-Gruppe und die Topographie des Montblanc- Massivs auf das Genaueste gezeichnet. Mit einem Capitel über die Katastrophen und Unglückssälle bei Ersteigungen des Montblanc schließt der Verfasser die Einleitung des dritten Abschnitts, um nunmehr zu den eigenen Expeditionen überzugehen. Nicht um das Gelingen dessen, was er persönlich durchgesührt und geleistet hat, in ein höheres Licht zu setzen, sondern mit Weiser Vorsicht und echt pädagogischer Einsicht hat Güßfeldt die vielfach unterschätzten Gefahren solcher Hochgebirgsreisen geschichtlich beleuchtet und kritisch hervorgehoben. Ihm lag daran, besonders jüngeren Alpinisten, denen ihre Freuden nicht auf dem „Weichen Boden äußeren Glanzes, sondern auf dem harten Grunde von Fels und Eis erblühen", zu zeigen, wie trotz angespanntester Körper- und Geisteskräfte die Natur vernichten kann, wo sie häufig allerdings auch gnädig bleibt.
Güßfeldt hat den Montblanc im Ganzen in vier Expeditionen von 1886 bis 1893 auf sechs verschiedenen Wegen erklommen. Die erste Expedition ging von Chamonix aus, die drei übrigen von dem aus der italienischen Seite gelegenen Courmayeur. Von diesen sechs Montblanc-Wegen führte einer durch die Jnnen- mulde zum Grand Plateau über die Bosses du Dromedaire, ein zweiter über die Aiguille und den Dome du Gouter, der dritte über den Wandgletscher des Dome im Miagegebiet, ein vierter über den Glacier und die Rochers du Montblanc, ein fünfter ebenfalls im Miagegebiet über den oberen Brenva-Gletscher, und der sechste über die Aiguille Blanche de Peteret. Von allen diesen Wegen war derjenige über