Heft 
(1894) 82
Seite
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Literarische Notizen.

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Den Lesern derRundschau" ist diese Schrift aus ihrer ersten Veröffentlichung in diesen Blättern bereits bekannt, und in ihrer Buchausgabe soll sie hier nur in Erinnerung gebracht werden als einWarnungsruf" und literarisches Sturmläuten", das auf die em­pfindliche philosophische Gefahr, die uns von Nietzsche droht, Hinweisen will. Auf Einzel­heiten einzugehen, ist hier nicht nöthig; wieder­holt wäre nur zu wünschen, daß das Büchlein jedem Gebildeten in die Hand gegeben werde, der in Gefahr schwebt, sich durch die Geist sprühenden Aphorismen Nietzsche's blenden und durch den Zauber der Form, die er meisterhaft beherrscht, berücken zu lassen. Unerbittlich geht Stein mit diesem neuestenAnticultur-Evan- gelium", dieserphilosophisch unzulänglichen", sociologisch-naiven" Modephilosophie ins Ge­richt; und da er klar schreibt und bei aller Schärfe der Polemik im Ton ruhig und bei der Sache bleibt, so sind wir überzeugt, daß sein Schriftcheu, wie es bei seinem ersten Erscheinen in derRundschau" schon Aufmerksamkeit er­regt bat, auch fernerhin nur Gutes stiften wird. Geschichte der neueren deutschenPsy- chologie. Von Max D es soir. Bd. I., von Leibniz bis Kant. Berlin, C. Duncker. 1894.

Das Buch von Dessoir verdient die sorg­fältigste Prüfung und Beachtung. Die erste Anregung dazn gab die Königl. Preußische Akademie der Wissenschaften mit der Aufgabe, die Entwicklung der deutschen Psychologie in dem Zeitraum von Wolsf's Tode bis zum Er­scheinen der Kautischen Vernunftkritik so dar­zustellen, daß die Beziehungen zur zeitgenössischen Aesthetik besonders hervortreten. Am Leibniz- tage 1890 erhielt der Verfasser den ausgesetzten Preis. An diese Arbeit knüpft er das vor­liegende Werk, das in drei Bänden bis auf die Gegenwart führen soll. Seine Methode zeichnet er in den Worten:Wie eine Zeit über psy­chologische Dinge denkt, das muß man unter­suchen, indem man den culturhistorischen Hin­tergrund aufrollt, die Beziehung zur Lebens­auffassung nachweist und die Summe geistiger Arbeit von dem angenommenen Standort aus beleuchtet. Es kommt doch lediglich darauf an, allgemeine Sätze über seelische Phänomen eines bestimmten Volkes, einer bestimmten Epoche zu gewinnen. . . . Besser als an Eichbäumen sieht man an Strohhalmen, woher der Wind weht. Wer die Psychologie des XVIII. Jahrhunderts an Leibniz und Kant schildern zu können glaubt, befindet sich im selben Jrrthum wie der poli­tische Geschichtschreiber alten Schlages, der die Schicksale von Königen und Königsgenossen anstatt die des Lebens der Nation erzählt." Das einen Zeitraum von 150 Jahren umfassende, groß angelegte Werk bleibt einer späteren ein-

> gehenden Besprechung Vorbehalten. Es soll ! vorläufig nur auf die Bedeutung desselben und

! seinen reichen, keineswegs auf die deutschen ! Bannerträger und Mitarbeiter an den psychologi- ! schen Problemen sich beschränkenden Inhalt ! hingewiesen werden.

I st-l. Ilz u lin. Vioi-K-« nt Martern. INe äu 1 o 8 ! 1^ sin nitro. iLarw, Iwoöus oto. 1894.

Wie Paul Bourget in denIMstols", wie Anatole France imllllui äs Xnors", hat Jules Lemaltre im vorliegenden Bande ein paar Dutzend Erzählungen an einander gereiht, von welchen die literarisch bedeutendste der Sammlung den Namen gibt. Den verschieden­sten Zeiten und Kulturen, von der Odyssee bis zur Gegenwart, entnommen, liegt der Reiz dieser kunstvoll ausgearbeiteten Skizzen in der zarten,

> durchsichtigen Farbe des stilistischen Kolorits, in der geschickten Anwendung eines Moment-

l Effectes oder einer ironischen Pointirung, durch welche der Verfasser über die Dürftigkeit des Inhalts der meisten dieser Skizzen hinwegzu­täuschen versteht. Wie sein oben genannter College verdankt er der christlichen Heiligen­legende die besten seiner Eingebungen. Myrrha ist die Geschichte einer verwaisten jungen Römerin, Tochter eines Freigelassenen des Nero. Der greise Papst Callixtus hat sie dem Glauben gewonnen. Die Jungfrau verfolgt der Gedanke an den Kaiser, den sie nie gesehen, dem sie die Freiheit ihres Vaters schuldet, von dessen Greueln Callixtus ihr erzählt. Sw erblickt in den palatinischen Gärten den unseligen Beherr­scher der Welt, der in Klagen darüber ausbricht, daß er den Genuß erschöpft hat, ohne das Glück zu erreichen, und Nom in Asche zu legen schwört. Es erfaßt sie der glühende Wunsch, seine Seele zu retten. Inmitten des Brandes, der die Stadt verzehrt, sieht sie ihn noch einmal wieder, die Leier in der Hand. Die Christen begrüßen das Gottesgericht, das die Tempel der heidnischen Götter verzehrt, und weigern sich, Schutz in des Kaisers Gärten und Palästen zu suchen, wo er die Römer aufnimmt. Da erscheinen seine Häscher und nehmen Callixtus und dessen Ge­meinde gefangen, mit ihnen die junge Myrrha, die den Augenblick willkommen heißt, für den größten der Sünder zu sterben. Im Amphi­theater harrt Rom seines Festes. Schon um­kreisen die Löwen ihre Opfer, da fällt des Kaisers Blick auf das junge Mädchen, das, unverwandt ihn anschauend, den Tod erwartet. Er aber mißversteht und glaubt, sie werde um Gnade bitten. Als sie schweigt, leuchtet, beim Anblick ihrer Schönheit, ein teuflisches Licht der Begierde im trüben Auge des Cäsaren auf. Er winkt, aber auch Callixtus hat verstanden. Mit schneller Gebärde faßt der Greis das Mädchen und wirft sie den Löwen entgegen.