Heft 
(1894) 82
Seite
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Ter Tod des Patroklos.

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sie stehen. Vergangenheit und Gegenwart in der Dichtung zu verbinden, ist eine der natürlichen Functionen der nationalen Phantasieschöpsung. Die großen Künstler suchen den Wünschen ihres Publicurns in dieser Dichtung möglichst nahe zu kommen. Ein Zeichen unserer eigenen modernen bildenden Phantasie aber ist, entweder das eine oder das andere dieser beiden Elemente zu stark Zu bevorzugen. Es entstehen dichterische Products aus diesem Wege, chie uns entweder durch gezwungene Alterthümlichkeit oder durch allzu grelle Abspiege­lung des täglichen Daseins dort langweilen, hier beunruhigen.

Erzählende und beschreibende Gedichte zu schaffen, ist den Völkern an­geboren. Begegnen wir erfolgreichen Schöpfungen dieser Art, so scheint es immer, als ob sie in neuer Gestalt wiederholen, was von Anderen vorher schon gewußt, gesagt, ja künstlerisch schon behandelt worden war. Sie erzählen von außerordentlichen Menschen, welche siegen oder untergehen. Immer dasselbe Lied anders gewandt. In allen geschieht das Entscheidende am Schlüsse. Eine breit angelegte Handlung zieht sich allmälig zusammen, spitzt sich zu, und die Erzählung nimmt, je mehr sie sich der Entscheidung nähert, rascheren Gang an. In den Anfängen epischer Kunstwerke herrscht zuweilen ein Suchen der rechten Form, ein Nichtfortkönnen oder Sichübereilen. Der Dichter vermag das Tempo nicht zu treffen, dessen er für den langen Weg bedarf. In den Anfängen der Nibelungen verliert sich die Darstellung ins Breite, der Dichter findet die einfachen Uebergänge nicht, seine Erzählung erscheint manchmal wie aus Bruch­stücken zusammengesetzt. Fortschreitend aber lernt er seine Kräfte besser kennen. Er fühlt, was er zu thun und zu lassen habe. Endlich aber meldet sich die Nothwendigkeit, zum Abschlüsse zu gelangen. In den Nibelungen wie in Ilias und Odyssee verwandelt sich erst gegen den Schluß hin der bis dahin holprige Weg in glatte Bahn. Vom Tode des Patroklos ab wird die Ilias zu dem gleichmäßig lichten Werke der dichterischen Kraft, die den Namen Homer trägt. Der zwischen zufälligen Ufern bis dahin manchmal in ungleicher Strömung gehende Fluß geht nun als ein von Rändern edlen Mauerwerkes eingefaßtes durchsichtiges Element rasch dahin. Das letzte Drittel der Ilias läßt sich als in einzelne Gesänge getheilt kaum noch betrachten. Die Begebenheiten drängen sich stracks vorwärts. Dennoch bedarf es auch hier noch der Ruhepunkte. Wie kunstvoll aber werden sie ausgebeutet!

In den Anfängen einer erzählenden Dichtung bildet der gesammte Bestand der Ereignisse eine dunkle Masse, wie ein Gebirge, das wir in der Ferne vor uns sehen. Nur die Schärfe der Umrisse prägt sich uns ein, die es abgrenzen. Je näher wir zuschreiten, um so deutlicher erhellt sich das Ganze und vermindert sich zugleich. Immer geringer wird der Bestand des Unbekannten. In dem Maße, als es vor uns abnimmt, ergreift uns ein stärkeres Gefühl emporzudringen. Endlich fühlen wir: noch einige Schritte, und Alles liegt als abgethan hinter uns, was zuerst als unbekannt vor uns stand. Bald löst die Erwartung sich in Erinnerung auf. Gedenken wir, wie am Schlüsse des Faust Faust's Sterb­liches sich in ein Unsterbliches verwandelt, dem sich, emporgetragen aus dem irdischen Bereiche, neue Bahnen eröffnen.