Das Religions-Parlament in Chicago.
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ja möglich, daß bei einem Theil des Publicums Religion für etwas Dagewesenes gilt und für ein Heilmittel, das mit dem Diphtherieserum keinen Vergleich eingehen darf. Vom geschichtlichen, d. h. vom wissenschaftlichen Standpunkte aus, stellt sich indeß die Sache doch Wohl etwas anders. Was wäre die Geschichte der Menschheit, wenn man die Religion ausstriche? Ein Räthsel ohne Lösung, ein Leben ohne Herzschlag. Viel Uebles hat Religion in der Geschichte angestiftet, vielleicht mehr des Hebels als irgend eine andere Macht. Aber das beweist jedenfalls die Gewalt der Religion, und Niemand wird leugnen, daß eine Macht, die so Schreckliches Hervorbringen konnte, auch Herrliches schaffen kann und geschaffen hat. Manche Geschichtsforscher erblicken in der Religion den rothen Faden, der sich durch das ganze Gewebe der Geschichte zieht, und der Augenblick, wo zum ersten Male die zerstreuten und verzerrten Fäden der ewigen Religion zu einem Knoten zusammengeschürzt wurden, kann doch kein ganz gleichgültiger in unserer Geschichte, in der Geschichte der Menschheit genannt werden. Es gibt viele Religionen, es gibt nur eine Religion. Alle geschichtlichen Religionen sind nur Varietäten der ewigen Religion, wie die Dialecte einer Sprache. Die jüdische, die christliche, die mohammedanische, die brahmanische, die buddhistische und jainistische, die zoroastrische und die von Consucius und Laotse in China gestifteten Religionen können als die neun hauptsächlichsten Proben der Religion gelten. Doch gibt es außerdem noch manche, wenn auch geschichtlich weniger bedeutende Formen des religiösen Bewußtseins, welche die Aufmerksamkeit des Geschichtsforschers in hohem Grade verdienen. Die vorgenannten neun Religionen haben den Vorzug, daß wir dieselben in ihren eigenen autorisierten heiligen Büchern studiren können. Aber Religion gab es natürlich auch in Aegypten und Babylonien, in Griechenland und Rom, unter den germanischen, celtischen und slavischen Stämmen, nur daß wir bei ihnen uns mit Bruchstücken und zerstreuten historischen Nachrichten zu begnügen haben, die dem constrnirenden Urtheil des Religionsforschers viele, oft unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellen. Ebenso ist es jeht Wohl allgemein anerkannt, daß es auch unter den uncivilisirten Völkern, selbst bei denen, welche auf der niedrigsten Stufe der Bildung stehen, keines gibt, welches nicht Vorstellungen und Namen für gewisse unsichtbare übersinnliche Wesen besäße, denen es Ehrerbietung erweist, und oft auch Opfergaben widmet; daß es in der That kein Volk ohne Religion gibt.
Jede von diesen Religionen geht nun ihren eigenen Weg und ist so sehr von ihrer alleinseligmachenden Kraft überzeugt, daß sie die übrigen kaum eines Blickes würdigt, und nur schwer ein selbstzufriedenes Lächeln unterdrücken kann, wenn man ihr zumuthet, sich in Reihe und Glied mit anderen Religionen zu stellen. Leider bleibt es selbst nicht bei dieser Gleichgültigkeit, sondern es stellt sich sehr oft eine Abneigung, Verachtung, ja selbst Haß gegen andere Religionen ein, der zu traurigsten Conslicten in der Geschichte geführt hat. Sobald zwei Religionen mit einander in Berührung kommen, ist fast der erste Gedanke, daß die eine die andere auszuzehren sucht. Man versucht zunächst Bekehrung durch gute oder schlechte Mittel, aber wenn alle Vernunft-