Heft 
(1894) 82
Seite
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Das Religions-Parlament in Chicago.

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öffentlichen Meinung hatten, mit wenigen Ausnahmen, nichts zu fagen oder wollten nichts sagen. Ja, hier und da zuckte man verächtlich die Schultern und belächelte sogar, was für jeden ernsten und gebildeten Mann etwas Heiliges hätte sein sollen. Jetzt endlich scheint es, als ob man die Fenster geöffnet habe, so daß der schlechte Rauch hinaus und die reine Luft der Wahr­heit herein ziehen könne. Nun, besser spät als nie. Ich weiß Wohl, wie schwer es ist, den richtigen Maßstab an Ereignisse zu legen, die wir selbst erlebt haben. Man lese nur die Geschichten und Memoiren, welche von Augen­zeugen oder von Mitbeteiligten über Ereignisse aus dem vorigen, ja aus dem jetzigen Jahrhundert niedergeschrieben Worden sind, und man wird erstaunen, wenn man wahrnimmt, wie wenig sie es verstanden, die bleibende und welt­geschichtliche Bedeutung zu erfassen bei Dingen, die sie mit eigenen Augen ge­sehen, mit eigenen Ohren gehört haben, ja an denen sie selbst betheiligt waren. In den Augen der Tagesfliegen ist Alles monumental und epochemachend, aber die Geschichte muß warten und Geduld haben, ehe sie ein wirkliches Urtheil sprechen kann. Es ist die Ungeduld der Mitwelt, welche die Verantwortung für so viele Denkmäler trägt, welche dem Andenken an Begebenheiten oder an Männer gewidmet sind, deren Namen jetzt schon nirgends mehr zu lesen sind als aus dem Sockel ihrer Monumente. Wenn man nun hundert Jahre wartete, ehe man Monumente zu Ehren von Fürsten, Staatsmännern, Künstlern, Dichtern oder Gelehrten errichtete, so würde mehr Platz für Standbilder auf unseren Plätzen und in den Straßen sein.

In Bezug aus die weltgeschichtliche Bedeutung des in Chicago gehaltenen Religionsparlaments jedoch tritt uns eine Thatsache entgegen, welche keinen Zweifel zuläßt, und worüber selbst das Urtheil der Mitwelt keiner Täuschung ansgesetzt sein kann. Ein solches Zusammenkommen von Vertretern der haupt­sächlichsten Religionen der Menschheit hat noch nie in der ganzen Geschichte stattgesunden. Es ist einzig in seiner Art. Es hatte keine Vorgänger, ja wir können Wohl sagen, es konnte keine Vorgänger haben. Die Neider haben auch dies in Abrede stellen wollen. Man hat den Herren von Chicago gesagt, daß ihr Parlament der Religionen durchaus nicht die erste Verwirklichung eines neuen Gedankens gewesen sei, sondern daß ähnliche Zusammenkünfte auch schon früher bewerkstelligt worden seien. Hier haben wir mit Thatsachen zu thuu. Ist es wahr oder ist es nicht wahr? Wenn das Religionsparlament zu Chicago nicht ein durchaus neuer Gedanke war, jedenfalls war es die erste Verwirklichung eines Gedankens, der still in den Herzen von Propheten gelebt, oder von Zeit zu Zeit von Poeten ausgesprochen worden sein mag, die eben das Recht haben, Träume zu träumen und Gesichte zu sehen. So finden wir bei Browning Worte, die fast wie eine Prophezeihung des Religions-Parlaments in Amerika klingen.

Laßt uns die Pilgerfahrt bereiten Durch alte und durch neue Zeiten,

Nach vielen Völkern, vielen Zonen,

Wo Heilige, Weise, Wilde wohnen,

Zu sehn, wie vor dem Vater von uns Allen Tie vielen Credos so wie Eins erschallen."