Das Religions-Parlament in Chicago.
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gewesen sein, mit Ausnahme des Blutdurstes der Ulemahs gegen die Verrückten, die srei und offen ihre ausgeklärten Gedanken aussprechen. So weit ist die Welt doch in drei Jahrhunderten sortgeschritten, daß es nicht mehr sür schicklich gilt, irgend Jemanden wegen seiner Überzeugungen zu verbrennen. Wie behutsam vor dreihundert Jahren selbst ein Kaiser sein mußte, wie scharf er und seine Freunde von seinen Gegnern beobachtet wurden, kann man vielleicht daraus ersehen, daß, wenn er sich mit einem Andersgläubigen oder Ungläubigen unterhalten wollte, selbst der Kaiser es geheim und in der Nacht thun mußte. Er saß dann auf dem Balkon seines Palastes, und der Fremde wurde an einem Strick heraufgezogen. Wie viel besser war es da in Chicago. Da gab es keinen Konstantin, keinen Akbar, dessen Zürnen oder Lächeln in Betracht kam. Die Bischöfe und Cardinäle, die zugegen waren, ermuthigten zur freiesten Aussprache und hätten dies auch nicht verhindern können. Die Versammlung war srei und collegialisch, sie war brüderlich und blieb ohne Mißklang von Anfang bis zu Ende. Alle Religionen der Welt waren vertreten, weit zahlreicher als im Palaste von Delhi, und ich sage es noch einmal und fürchte keinen Widerspruch, das Religions-Parlament von Chicago steht einzig in seiner Art da. Es hat keine Vorgänger gehabt, ja es konnte keine Vorgänger haben.
Man denkt gewöhnlich, daß die Anzahl der Religionen sehr groß sei. Aber von großen historischen Religionen, von Religionen, die aus heilige Bücher begründet sind, gibt es nur acht oder neun. Sie kamen alle aus dem Morgenlande, drei aus arischer, drei aus semitischer Quelle, zwei aus China. Die drei arischen Religionen sind
1. dievedische, mit ihren zahlreichen Abzweigungen in Indien, Hinterindien und den Malayischen Inseln;
2. die avestische, oder nach ihrem legendenhaften Gründer die zoroastrische genannt;
3. die buddhistische mit ihren zahlreichen Secten, von denen einige kaum noch den historischen Buddha als ihren Gründer in Anspruch nehmen können.
Die drei großen semitischen Religionen sind
4. die jüdische;
5. die christliche;
0. die mohammedanische.
Aus China haben wir dann noch
7. die Religion des Consucius;
8. die Religion des Laotse.
Das sind die Hauptmitglieder des Religionsparlaments. Doch dürften Wohl auch die Anhänger Jinas, die Jainas in Indien, Anspruch aus Sitz und Stimme haben, da ihre Anzahl und ihr Einfluß sehr bedeutend sind und sie einen heiligen Canon besitzen, der den Ursprung dieser Religion sogar über den geschichtlichen Ursprung des Buddhismus hinaus versetzt. Auch fehlte es in Chicago nicht an hervorragenden und sehr energisch hervortretenden Mitgliedern von dieser in Indien mehrere Millionen an Anhängern zählenden
Deutsche Rundschau. XXI, 6. 27