Das Religions-Parlament in Chicago.
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Menschheit ins Werk zu setzen. Die Schwierigkeiten waren nicht gering. Zuerst galt es, wirklich befähigte Gelehrte zu dieser Arbeit heranzuziehen. Viele hatten keine Zeit, Andere hatten keine Lust, die Meisten hielten die Schwierigkeiten für zu groß, als daß sie in so kurzer Zeit zu überwinden wären. Die zu übersetzenden Texte waren oft noch nicht kritisch bearbeitet, die Uebersetzung konnte an vielen Stellen nur versuchsweise gemacht werden. Man fürchtete sich vor übelgesinnten Kritikastern, die, obgleich sie sich selbst nie an eine solche Arbeit heranwagen würden, es leicht genug finden, hier und da ihr maßloses Mißfallen in anmaßenden Worten auszusprechen. Trotz alledem bekam ich meine Freiwilligen zusammen. Wir machten uns an die Arbeit, und fünfzig Bände liegen nun gedruckt vor, in welchen jede der Hauptreligionen, so wie sie ist und war, von Jedem, der Englisch versteht, in Augenschein genommen und studirt werden kann. Ich kann nicht dankbar genug sein, daß es mir vergönnt gewesen, mit Hülse der besten Kenner der orientalischen Sprachen dieses Unternehmen zu beginnen und zu Ende zu führen, und so den Unterbau zu liefern, aus welchem einmal in kommenden Jahren oder Jahrhunderten die Religion der Zukunft ihren Tempel erbauen kann, einen Unterbau, weit und breit genug für Alle, die, wie die Deutschen des Tacitus, an ignotum illuä guoä solo revsrantia vicksnt glauben, die ihm den Namen ,Unser Vater^ geben, obgleich sie wissen, wie schwach auch dieser Name ist, um die Majestät zu benennen, in der wir leben, weben und sind.
Obgleich aber eine Kenntniß der fremden Religionen unwiderstehlich zu einer Anerkenntniß des Guten und Wahren, das in ihnen enthalten ist, führen mußte, so hat diese Anerkenntniß doch nirgend vorher eine so offene, eine so solenne Bekräftigung gefunden, als im Religionsparlament zu Chicago. Man bemerke ja, daß dieses Parlament nicht, wie die Versammlungen unter Akbar, den Zweck hatte, eine neue Religion vorzubereiten oder auf der Stelle auszuarbeiten. Aber nichtsdestoweniger hat sich das Factum klar gestellt, daß es eine ewige und universale Religion gibt, und daß im Glauben an diese Religion die höchsten Würdenträger und Repräsentanten aller Religionen der Erde sich als Brüder begrüßen, ja als Brüder hören konnten, was jede einzelne Religion für sich zu sagen hat, daß sie in ein allgemeines Gebet einstimmen und den Segen empfangen konnten an einem Tage von den Händen eines christlichen Erzbischofs, an einem anderen Tage von einem jüdischen Rabbiner und wieder an einem anderen Tage von einem buddhistischen Mönch. Mit jedem Tage wurde es klarer, daß die Punkte, in denen die großen Religionen auseinander gehen, weit weniger zahlreich und — man darf Wohl hinzu- sügen — weit weniger wichtig sind, als die, in denen sie übereinstimmen. Zum ersten Mal in der ganzen Weltgeschichte konnte man es vor Augen sehen, daß Gott sich selbst nicht hat unbezeuget gelassen, im fernen China wie in Palästina, in Indien wie in Persien und Arabien.
Aber so anerkennungswerth das harmonische und wahrhaft brüderliche Verhalten zwischen den Mitgliedern des großen Parlaments in Chicago war, so muß man doch nicht zu viel von der menschlichen Natur erwarten. Der Mensch bleibt immer Mensch, und es gab Wohl Niemanden, zu welcher Religion