Das Religions-Parlament in Chicago.
423
Dazu kommt noch die Verschiedenheit der Auslegung, welche die heiligen Bücher aller Religionen erfahren haben. Wir wissen, wie viel unsere eigene Bibel von den Händen der Theologen zu leiden gehabt; wir wissen, von wie vielen Seelen unsere eigene Religion zerklüftet ist, und wie z. B. selbst in der bischöflichen Kirche Englands Lr. Pusey erklären konnte, daß ein anderer berühmter und verehrter Theologe, Friedrich Maurice, nicht denselben Gott als er verehre. Man mag also noch so oft erklären, daß die Bibel die höchste Autorität für die Christen, der Veda für die Brahmanen, das Tripitaka für die Buddhisten, der Koran für die Mohammedaner sei, es bleibt immer die Schwierigkeit, nachdem das Orakel gesprochen, das Orakel auch zu interpretiren. Wenn man die Streitigkeiten der Secten der verschiedenen Religionen kennt, so überkommt einen ein wahres Gruseln, Jemanden ganz unschuldig vom Buddhismus sprechen zu hören, als ob es nur einen Buddhismus gäbe, und als ob die verschiedenen Schulen, alle anscheinend gleich berechtigt, namentlich die Mahäjkna- und Hinajäna-Schulen, nicht himmelweit von einander entfernt wären. Die Fortwirkung der That (Karman), die Grundidee des Hinajäna-Buddhismus, wird von den Mahäjäna-Schulen einfach geleugnet. Die Frage nach der Unsterblichkeit des Buddha wird in Japan bejaht, in Ceylon offen gelassen, ebenso wie unter den Christen die Unitarier es ablehnen, Christus einen Gott zu nennen, welches von anderer Seite als die Grundbedingung der ganzen christlichen Religion betrachtet wird.
Ich glaube also, daß ich mich nicht täusche, wenn ich in der Sammlung der Laerocl Looks ot tüs Las^ ein besser beglaubigtes Religions-Parlament erblicke, als selbst im Parlament von Chicago. In der Versammlung zu Chicago hatte man natürlich einen nicht zu unterschätzenden Vortheil. Man hatte lebendige Zeugen; die Sammlung meiner fünfzig Bände besteht aus stummen Zeugen. Dort machte man die Geschichte der Zukunft, hier haben wir nur die Geschichte der Vergangenheit. Dort war Leben und Begeisterung in den eng gedrängten Räumen. Tausende von Kehlen stimmten in die Orgeltöne der Choräle ein; man hörte, man sah, man bewunderte die eigenthüm- lichen Trachten der Weisen aus dem Morgenlande, hier die Gewänder von schneeweißem Muslin, dort von gelber und rother Seide oder von purpurfarbigem Brokat-Atlas. Man suchte die Züge der dunkelfarbenen Indier, der braunen Japaner, der gelben Chinesen zu entziffern, man sprach, man drückte sich die Hände, bis die Wogen des Enthusiasmus immer höher und höher schlugen und man ganz bereit war, mit Schiller und Beethoven „Seid umschlungen, Millionen" zu singen. Hier, in der Sammlung der „Laeroä Looks ot tüo Last" ist Alles still und ruhig: nachdenkend liest man die Sprüche der alten Weisheit, vergleicht sie und versucht sie zu verstehen, wenn überhaupt ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts sich in die Sprache des fernen Alterthums hineindenken kann. In Chicago machte man Geschichte; hier betrachtet man das Geschehene und sucht es zu begreifen. Es gibt eben zwei Welten, die Welt der That und die Welt des Worts. Beides, die Thaten und den Bericht der Thaten, nennt man mit demselben Worte Geschichte. Aber was bleibt schließlich von allem Geschehenen übrig, worin lebt die Welt der That fort, wenn nicht in der Welt des Worts, in der geschriebenen Geschichte? Hier, in