Das Religions-Parlament in Chicago.
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aufhören würden, ihre Anethemas gegen Alle zu schleudern, deren Nichtwissen nicht mit ihrem Nichtwissen übereinstimmt — das ist natürlich nicht zu erwarten.
Aber das Laienthum der Welt hat höhere Pflichten und Rechte als die Klerisei und wird sich den Glauben an die ewige Religion, die Religion der Gottes- und Menschenliebe, in den kommenden Jahrhunderten nicht länger rauben lassen. Die Gottesgelehrten mögen den Kopf schütteln zu einer Religion, die nur aus zwei Sätzen besteht. Die Zeit wird kommen, wo selbst diese zwei Sätze in einen zusammenschmelzen werden; denn, wenn richtig verstanden, sind sie nur einer. Die Gottesgelehrten halten es kaum für anständig, daß eine Religion aus zwei Sätzen bestehen soll. Sie brauchen Folianten und Folianten auf Folianten — die heiligen Bücher, die Väter, die Beschlüsse der Concilien, Commentare, Glaubensartikel und Katechismen. Sie scheinen zu denken: je mehr desto besser; sie vergessen, daß für die Pilgerfahrt durch das Leben ein Trunk frischen Wassers besser ist als die ganze Sandwüste ihrer theologischen Literatur. In den kritischen Augenblicken des Lebens, wo wir wirklich Religion brauchen, da helfen uns keine Folianten, da hilft nur ein Gedanke, ein Wort. Für die Richtung der Seele von Port zu Port, sei es Sonnenschein oder sei es Sturm, reicht eine kleine Nadel aus, die hinweist nach dem unerschütterlichen Pol der Wahrheit. Muß man durchaus zehn Gebote haben, damit Niemand sich seines Nächsten Ochsen oder Esels, gelüsten lasse, so können die einzelnen nationalen Religionen diesem Bedürsniß, je nach ihrem Breite- und Längegrade, sehr leicht abhelfen. Daß es außerdem auch Universalgesetze der Moral gibt, ist damit nicht nicht in Abrede gestellt; die Frage ist nur, ob sie nicht alle, wie das Gesetz und die Propheten, in dem Grundgebote der Menschheit ruhen: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst."
Man hat die Frage nach einer universalen Moral im Religions-Parlament durchaus nicht unbeachtet gelassen- Man hat viel gethan in Chicago, aber man hätte leicht noch mehr thun können. Hätte man nur die wenigen Glaubensartikel, welche von allen Religionen anerkannt werden, hätte man die moralischen Grundsätze, zu denen sich in Chicago alle Anwesenden bekannten, sorgsam gesammelt, so hätte man den Samen, ja mehr als den Samen, einer Universalreligion für die ganze Menschheit gehabt. Nun, ein Schritt ist gethan, der erste und der schwerste Schritt. Jetzt gilt es, die Fackel, die in Amerika angezündet worden, weiter zu tragen, von Hand zu Hand, von Land zu Land, bis das neue Licht alle Kirchen, alle Tempel, alle Moscheen, alle Pagoden des Erdkreises erfüllt, und die Menschheit hinter allen Normen und Formen den unbekannten Gott erkennt, von dem schon etliche alte Poeten gesagt haben: „Wir sind seines Geschlechts." Es gibt in jeder Religion etwas Ewiges und etwas Zeitliches. Das Zeitliche ändert sich, das Ewige bleibt. Und wenn man das Ewige aus dem Zeitlichen hervorziehen Will, gibt es für den Anfang kein besseres Mittel als das, was man in Chicago versucht hat: zu entdecken, was allen Religionen gemeinschaftlich ist, dies sestzuhalten als die wahre und ewige Religion, und alles Uebrige, so weit es geht, zu dulden, wie man die Trachten duldet, in denen die verschiedenen Nationen sich auf den großen Sammelplätzen der Erde begegnen und begrüßen.