Heft 
(1894) 82
Seite
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Deutsche Rundschau.

Die wirkliche Ursache der tödtlichen Krankheit hat die Erzählung von Steffens enthüllt, wenn sie auch in den Einzelheiten Wohl zu stark aufträgt. Es waren falsche Gerüchte von Volksbewegungen in der Umgegend von Halle verbreitet, an denen auch Studenten betheiligt sein sollten. Jerome, durch den Dörnbergischen Aufstand erregt und erbittert, ließ Müller kommen, machte ihm die gröbsten Vorwürfe und ließ heftige Drohungen gegen die Universi­täten fallen. Müller, ohnedem längst entmuthigt, war von der Kränkung hart betroffen und verließ Jerome in trostlosem Zustand.

Die heftige Gemüthsbewegung" fährt Steffens fortveranlaßt einen Zufall, der einen tödtlichen Charakter annahm: er bekam plötzlich die Rose im Gesicht; seine Freunde ängstigten sich. Reinhard eilte von seinem Krankenbett zum König und machte ihm die heftigsten Vor­würfe. ,Vergessen Sie nicht/ sagte er, ,daß Müller von dem Kaiser beschützt wird, daß dieser eine unbedingte Gewalt über Sie ausübt, daß ich hier in seinem Namen bin und Sie für die un­gerechte Behandlung und ihre Folgen verantwortlich mache? Jerome ward unruhig und sandte feinen Leibarzt zu Müller. Er ward abgewiesen. Die Krankheit wurde immer gefährlicher, und nach wenigen Tagen war Müller todt."

Steffens hat, wie gesagt, Wohl zu starke Farben aufgetragen; so viel aber wird man seinem Bericht entnehmen dürfen, daß Reinhard sich mit Wärme und Nachdruck Müller's angenommen hat. Von der Scene mit dem König schweigt er in seinen Briefen. Die ganze Wahrheit wagte er auch Goethe nicht zu schreiben. Den Hingang Müllers aber berichtete er gleich nach Weimar, und seinem Schmerz über den Verlust des Freundes, dem er gerade in den letzten Zeiten immer näher gekommen war, ließ er freien Lauf. Und an Villers schrieb er:

Sein Umgang war die Hauptannehmlichkeit meines Aufenthalts in Cassel. Ach, ich dachte nicht, daß er sterben würde, und habe nicht genug Nutzen von ihm gezogen. Aber was mich noch viel mehr anzog, als sein Wissen und seine Gelehrsamkeit, war seine kindliche Güte, jene Seelen­unschuld, die ich nie bei einem Menschen wie er angetroffen habe. Ich konnte mich ganz gehen lassen, mit einem Behagen, das ich selten empfunden hatte; wir plauderten, wir lachten, wir verstanden uns, und oft sagten wir uns nicht Alles, weil wir inmitten des innigen Vertrauens, das wir zu einander hatten, unsere Lage gegenseitig achteten. Oft war er bei uns zum Essen, im engsten Kreise, wie er es liebte. Dann thaute er auf beim Dessertwein oder beim Bischof, alles Feuer seines Geistes sprühte in Funken, seine Heiterkeit wurde beredt, seine Gelehrsamkeit umgab sich mit dem Gürtel der Grazien, oder vielmehr, seine Seele zeigte sich unverhüllt, und er sagte die Wahrheit, wie er sie empfand, wie er sie geschrieben hatte. Er hinterläßt seine Manu- scripte, seine Bibliothek und Schulden. Es scheint, daß sein Bruder nicht kommen wird; seine Gegenwart wäre sehr nöthig, denn ich sehe Infamien voraus, die ich verhindern werde, wenn ich kann."

Reinhard fürchtete, daß die hohe Polizei sich an Müller's Nachlaß machen und die Papiere des deutschen Gelehrten durchsuchen werde. Wirklich gab sich Barcagny, der Chef der hohen Polizei, alle Mühe, die Mitwissenschaft Müller's an den aufständischen Bewegungen zu erweisen, natürlich vergebens. Noch im September schrieb Reinhard nach Paris:

Die hohe Polizei behauptet, Anzeichen zu haben, daß Müller Kenntniß von der Dörn- berg'schen Verschwörung hatte. Ich wage es, dieser Behauptung im Namen des im Grabe Ruhenden ein förmliches Dementi zu geben, nicht allein auf Grund der Kenntniß, die ich von seinem Charakter hatte, sondern auch nach der ganzen Art, wie er sich in den damaligen Um­ständen betrug.