Heft 
(1894) 82
Seite
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Deutsche Rundschau.

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Chef der Executivgewalt von den Pariser Socialisten aus den Schild gehoben und zum Deputirten gewählt worden. Nachdem das Ministerium Dupuh gegen die Freilassung dieses Volksvertreters erfolgreichen Widerstand geleistet hatte, blieb es demgemäßigten" Cabinet Ribot Vorbehalten, aus Grund der von der Deputirten- kammer mit überwältigender Stimmenmehrheit beschlossenen allgemeinen Amnestie dem socialistisch-revolutionären Abgeordneten für Paris die Thore von Sainte- Pelagie zu öffnen.

Daß die Rückkehr Henri Rochesort's sich zu einer großen socialistischen Kund­gebung gestalten würde, konnte vom ersten Augenblicke an keinem Zweifel unter­liegen. Auch hätte sowohl das Ministerium Ribot als auch der besonnenere Theil der Deputirtenkammer und des Senates durch das Verhalten des Leiters des Jntransigeant" nach seiner früheren Begnadigung belehrt werden müssen, wie ge­fährlich es ist, solchen revolutionären Elementen gegenüber Milde walten zu lassen. Wenn Rochesort nur seiner fanatischen Ueberzeugung folgte, so würde das un­parteiische Urtheil über ihn nicht so streng aussallen. Es braucht jedoch nur aus sein Zusammengehen mit dem General Boulanger hingewiesen zu werden, um zu zeigen, daß er keineswegs überzeugter Republikaner ist, sondern sich lediglich durch persönliche, geschäftliche Interessen leiten läßt, wenn er jede bestehende Staatsordnung rücksichtslos bekämpft. Mit Recht ist denn auch daraus hingewiesen worden, daß General Boulanger, falls er wider alles Erwarten an die Spitze Frankreichs gelangt wäre, in Rochesort einen entschiedenen Widersacher gesunden hätte; nur wäre es dann für die republikanischen Einrichtungen zu spät gewesen. Ob daher die neue Regierung und die gemäßigteren Parteigruppen in beiden Kammern klug gehandelt haben, als sie mit überraschender Bereitwilligkeit der allgemeinen Amnestie zu­stimmten, muß sehr zweifelhaft erscheinen. Nicht minder bedenklich als die Be­gnadigung Rochesort's ist für alle Freunde der staatlichen Ordnung die Freilassung des revolutionären Abgeordneten Gerault - Richard, nachdem kurz zuvor die frühere Regierung im Hinblick aus die dem Präsidenten der Republik gebührende Stellung eine Cabinetsfrage daraus gemacht hatte, daß auf schwere Kränkungen, die dem Chef der Executivgewalt zugefügt werden, nicht eine besondere Prämie gesetzt würde.

Jedenfalls konnte es nach diesen Vorgängen nicht überraschen, daß die Socia­listen der französischen Deputirtenkammer unter der Führung Millerand's sich be­eilten, einen neuen Ansturm zu versuchen. Die Angelegenheit der mit den großen Eisenbahngesellschaften geschlossenen Conventionen sollte den äußeren Anlaß für dieses Vorgehen bilden. War es doch auch am 14. Januar gelungen, das Cabinet zu stürzen, indem derselbe socialistische Abgeordnete die Regierung wegen des den Eisenbahngesellschaften günstigen Beschlusses des Staatsrathes über die Zinsgarantie für die Orleansbahn und die Compagnie du Nicki interpellirte. Damals unterlag die Regierung, indem die Priorität für die von ihr angenommene Tagesordnung abgelehnt wurde. Die Thatsache, daß die Kammermehrheit gewissermaßen gegen den Staatsrath Front machte, ohne zu bedenken, daß die legislative Gewalt sich über die richterliche hinwegsetzte, mußte in den Socialisten die Vorstellung bestärken, daß ans solcher Grundlage der Kamps gegen die bestehenden Einrichtungen sort- gesührt werden könnte. Der Deputirte Millerand beantragte denn auch die Ein­setzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Frage der Eisen- Lahnconventionen einer Prüfung unterziehen sollte. Als dieser Antrag zur Annahme gelangte, trinmphirten die Ultraradicalen bereits in der Erwartung, daß trotz der Entscheidung des Staatsrathes die mit den großen Eisenbahngesellschasten geschlossenen Verträge für ungültig erklärt werden könnten. In dieser Hoffnung sahen sich die Socialisten jedoch sehr bald getäuscht, da die Kammer die Prüfung des Untersuchungs­ausschusses daraus beschränkte, ob der frühere Bautenminister Raynal bei der Ver­längerung der Conventionen pflichtgemäß gehandelt habe. Unter den dreiunddreißig Mitgliedern der Commission befanden sich nur drei, welche die Enquete aus die Rechtsgültigkeit der Conventionen selbst ausgedehnt sehen wollten-