Politische Rundschau.
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In diesem Falle zeigte sich von Neuem, daß auch in der französischen Deputaten- ' kammer im entscheidenden Augenblicke das Gefühl der Verantwortlichkeit sich geltend macht, sobald wesentliche Einrichtungen der Republik in Frage stehen. Würde es doch dem constitutionellen Gegensätze von der Trennung der Gewalten durchaus widersprechen, salls die Deputirtenkammer in einer Angelegenheit der Rechtsprechung sich die Besugnisse einer höheren Instanz gegenüber dem Staatsrathe anmaßte. Unzweifelhaft haben die entscheidenden Factoren der sranzösischen Republik oftmals große Fehler gemacht — die jüngste allgemeine Amnestie, sür die kein zwingender Grund vorlag, gehört wohl zu diesen Fehlern — im psychologischen Momente haben sie jedoch in ihrem dunklen Drange den rechten Weg gesunden. So mußte die Ruhe, mit der sich nach der Ermordung des Präsidenten der Republik Carnot der Uebergang der höchsten Gewalt an Casimir-Perier vollzog, nicht minder Anerkennung finden, als jüngst nach dessen unerwartetem Rücktritte die Uebertragung der Präsidentschaft an Felix Faure. Nicht bloß in Frankreich, sondern auch außerhalb dessen Grenzen, insbesondere in Deutschland ist es mit Genugthuung ausgenommen worden, daß die republikanischen Institutionen sich in der schweren Krisis, die durch die jähe Entschließung Casimir-Perier's hervorgerufen worden war, bewährt haben. Wie Fürst Bismarck seiner Zeit aus seinen Sympathien sür eine friedliche französische Republik kein Hehl machte, muß diese Regierungssorm des Nachbarstaates nach deutscher Austastung auch heute noch vor allen anderen den Vorzug verdienen. Ohne jeden machiavellistischen Nebengedanken darf doch betont werden, daß sür eine friedliche Entwicklung Frankreichs die republikanischen Institutionen die sicherste Gewähr bieten. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß mit den vom General Boulanger gehegten Staatsstreichgelüsten der Gedanke der Revanche aufs Innigste verknüpft war. Sicherlich würde auch die Wiederherstellung des orleanistischen Königthums oder des bonapartistischen Kaiserthums unverzüglich dieselben eitlen Hoffnungen erwecken. In dieser Beziehung erscheint charakteristisch, daß die orleanistischen Blätter bei jeder Gelegenheit betonen, ihre Monarchie würde Frankreich mit einein Schlage büudnißfähiger machen, als es die Republik je zu sein vermöchte. Als ein günstiges Symptom sür die Ausrechterhältung des europäischen Friedens darf daher bezeichnet werden, daß weder der orlsa- nistische noch der imperialistische Prätendent unter den gegenwärtigen Verhältnissen auch nur einigermaßen ernsthaft in Betracht kommen kann. Der aus Anlaß der jüngsten Prüsidentschaftskrisis von dem Herzoge von Orleans unternommene Ausflug nach Dover, wo er Frankreich näher sein wollte und den entscheidenden Tag, an dem die Nationalversammlung in Versailles Sitzung hielt, damit zu- Lrachte, zahlreiche photographische Aufnahmen seiner Persönlichkeit zu veranlassen, die dann zu Tausenden nach Frankreich versandt werden sollten, um der monarchistischen Propaganda zu dienen, konnte den Ernst der Situation nicht erhöhen. Irgend welcher soup äs tsls, ja selbst ein eoup äs tbsatrs, bei dem der orlsanistische Prätendent seine Haut zu Markte getragen hätte, würde seiner an und für sich aussichtslosen Sache immerhin bessere Dienste geleistet haben. Was jedoch die Bündnißfähigkeit betrifft, so wird von Seiten der Republikaner gegenüber den orleanistischen Lockungen nach wie vor aus das russische Zukunftsbündniß hingewiesen. Allerdings tauchen in Frankreich selbst begründete Zweifel auf, ob diese Allianz den aus Anlaß der wechselseitigen Flottenbesuche in Kronstadt und Toulon erhofften Charakter haben könnte.
Zugleich bricht sich jenseit der Vogesen allem Anscheine nach immer mehr die Ueberzeugung Bahn, daß es im eigenen Interesse liege, gute Beziehungen zu den übrigen Staaten zu unterhalten. Als die Meldungen auftauchten, der König der Belgier beabsichtige auf seine Souveränetät über den unabhängigen Congo- staat zu Gunsten Belgiens zu verzichten, wurde unter dem ersten Eindrücke dieser Nachricht in einzelnen sranzösischen Blättern Einspruch gegen ein solches Vorhaben mit der Begründung erhoben, daß der sranzösischen Republik ein Vorkaufsrecht