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Deutsche Rundschau.
dieselben Aussicht auf momentanen Erfolg und lockenden Vortheil boten, hat Lady Blennerhaffett bei diefer wie bei anderen Gelegenheiten fo überzeugend nachgewiesen, daß die Discufsion darüber als geschloffen bezeichnet werden kann.
Eine Schriftstellerin von dem Range der Lady Blennerhaffett hat das Recht, ihren eigenen Stil zu schreiben. Wäre dem anders, fo dürfte hervorgehoben werden, daß geistreiche Pointen kleineren Arbeiten besser zu Gesichte stehen als historischen Untersuchungen im großen Stil, und daß es Gefahren mit sich bringt, wenn man mehrere Sprachen fo geläufig schreibt, daß man den Eigenthümlichkeiten der einen Schreibweise Einfluß auf die andere gestattet. Der Hauptsache gegenüber kommt das kaum in Betracht, und diese Hauptsache ist, daß die Verfasserin bei der Beurtheilung von Tallehrand's Charakter und Thätigkeit ein seltenes Maß von gesundem, im höchsten Sinne des Wortes moralischem Takt bewiesen hat. Ohne die häßlichen und bedenklichen Seiten des Bildes zu verschleiern, stellt sie dasselbe in das einzige Licht, in welchem eine richtige Betrachtung möglich ist: in die Beleuchtung dessen, was man Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts nennt. Mit der Anerkennung, daß der Mann, der jeder französischen Regierung gedient und jede wieder verlassen hat, in seinem Sinne Patriot gewesen, daß er ein bestimmtes System verfolgt und seine Monarchen immer erst ausgegeben hat, „nachdem diese sich selbst aufgegeben", hat die Verfasserin ein für alle Mal das Richtige getroffen. Dieses Urtheil aber stellt sich als das Ergebniß wirklichen Eindringens in diejenige Moral dar, welche das achtzehnte Jahrhundert den Privi- legirten unter seinen Kindern allein mitzugeben vermochte. Daß er keine andere als diese Moral gekannt, soll nicht die Rechtfertigung, sondern die Erklärung Tallehrand's bilden. Und zu erklären ist die letzte und höchste Aufgabe Derer, die ihren Zeitgenossen vergangene Dinge und Menschen vorzusühren unternehmen. Lady Blennerhaffett hat das gewußt, wie sie überhaupt gewußt hat, woraus es ankam.
Ein schwedischer Autor über das moderne England.
^Nachdruck untersagt.j
Aus dem modernen England. Eine Auswahl Bilder und Eindrücke von Gustav F. Steffen. Mit 134 Textilluftrationen und 11 Tafeln. Ans dem Schwedischen von Dr. Oskar Reyher. Leipzig, Peter Hobbing. 1895.
Ein guter Beobachter des englischen Lebens schildert es hier fesselnd und farbenreich in einigen seiner interessanten Erscheinungen. Der Leser gewinnt aus dieser Darstellung einen ebenso klaren Eindruck von der praktischen Einrichtung der Londoner 8tore8, deren Mitglieder sich die besten Waaren zu billigsten Preisen verschaffen und in wenigen Stunden eine ganze Hauseinrichtung kaufen können, wie von dem hastenden Treiben an der Börse oder dem fashionablen Gedränge in den Sälen von Burlington House während der Gemäldeausstellung im Mai. Keineswegs aber bleibt der Verfasser an der Oberfläche hasten, er sucht auch die Unterströmungen im englischen Gesellschastsleben zu sondiren und hat richtig erkannt, wie in dem letzten Jahrzehnt ein merkwürdiger Umschwung betreffs der Motive zur Thätigkeit erfolgt ist: wie sich eine ganze Classe hochgebildeter Engländer mit Feuereifer der socialen Frage zuwendet und in uneigennützigster Weise mit Aufopferung des eigenen Komforts an der Hebung der unteren Volksschichten arbeitet. Darin liegt vor Allem das Geheimniß des Erfolges, welchen der Roman „Robert Elsmere" hatte, und zugleich die Tragik seines Helden, der sich an der bequemen Seelsorgerthätigkeit unter den ländlichen Arbeitern nicht genügen ließ, sondern feine