Literarische Rundschau.
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Pfründe ausgab, um unter den Massen des Eastend von London Licht und Sittlichkeit zu verbreiten. Ein Denkmal solcher Bestrebungen ist der Volkspalast (keoxle'g Malaeoi im Osten von London, eine Art Club sürs Volk, mit Behaglichkeit und Lehrmitteln verschiedener Art ausgestattet, dessen Bau Walter Besant, wie schon früher einmal in dieser Zeitschrift ausführlicher mitgetheilt, durch sein Buch ,,^U LorM ancl Eonäitioim ok men" angeregt hat.
Der Vergleich der englischen Hauptstadt mit Paris, womit Steffen seine Darstellung eröffnet, muß nach gewissen Seiten hin natürlich sehr zu Ungunsten Londons aussallen. Die heitere Renaissance von Paris fehlt hier, ebenso wie das lebenslustige Temperament seiner Bewohner; die meisten sehenswerthen Gebäude Londons gehören, wenn man von dem Centralkuppelbau der Pauls-Kathedrale und dem britischen Museum absieht, dem Tudorstil der Spätgothik an und sind vorzugsweise im Inneren durch ihre reiche Täfelung, ihre Fächergewölbe und wundervollen Holzschnitzereien eindrucksvoll. Wie viel näher liegt der Vergleich Londons mit Hamburg, das als Flußmündungshasen ebenso wie in den säst ausschließlichen Handelsinteressen seiner Bewohner, ihrem nüchternen und sreien weltmännischen Blick mit der Metropole an der Themse übereinstimmt.
Im Grunde sind die Engländer conservativ. Aber wenn auch bei besonderen feierlichen Gelegenheiten, wie dem Lord-Mayor-Show am 9. November, wo der neuerwählte Oberbürgermeister der City in vergoldeter Staatskarosse nach der Guild- hall fährt, alle möglichen ehrwürdigen Raritäten hervorgeholt werden — dem demokratisch nivellirenden Zuge unseres Jahrhunderts haben sich auch die Engländer nicht entziehen können. England unterscheidet sich heute wenig von einer demokratischen Republik, und der Hof bildet eigentlich nur das Centrum des gesellschaftlichen Verkehrs. Die Rolle, welche der Prinz von Wales spielt, beschränkt sich darauf, Führer der Gesellschaft im engeren Sinne zu sein. Wohlthuend berührt den Leser die warme, unbefangene Würdigung der socialen Entwicklung Englands; Steffen, ein Landsmann Jbsen's, theilt dessen Ansicht, daß die wahren „Stützen der Gesellschaft" Wahrheit und Freiheit sind. Die starke Seite des englischen Charakters ist seine Geradheit und Aufrichtigkeit; aber das Bedürsniß des künstlerischen Kontrastes hat den Verfasser verleitet, die englische Männerwelt zu sehr als „repou88oir" für die unbestreitbaren Vorzüge der Engländerinnen zu benutzen. Wir theilen vollkommen seine Bewunderung dieser hohen, schlanken Gestalten mit den edelgesormten Gesichtern; ein anmuthigeres Bild gibt es Wohl kaum, als eine Schar englischer Mädchen, die in ihren Hellen Sommertoiletten Tennis spielen. Aber die männlichen Vertreter dieser Species kommen bei Steffen schlecht weg; er stellt sie durchweg als bornirte Tölpel dar, die sich mit gespreizten Beinen, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, wie sie es vom Cricketfeld her gewöhnt sind, vor eine Dame Hinpflanzen, um eine sogenannte Unterhaltung anzufangen. Dies Uebergangsstadium, wo der junge Mann in der Gesellschaft unfreiwillig die Rolle eines unbeholfenen Clowns spielt und als „Mvvk" gilt, reicht doch bei den Meisten nur bis zum zwanzigsten Jahre; manche dehnen diese Periode allerdings länger aus. Aus eine gewisse Geistesarmuth könnte freilich die Sitte schließen lassen, daß fast bei jeder größeren Gesellschaft Specialitäten oder „xrokeLsionall" erscheinen, welche für die Unterhaltung sorgen müssen. Der Salon wird so in die Bühne eines Variets-Theaters verwandelt, der Komiker aus der Musikhalle gibt sein neuestes Lied zum Besten, sogar Boxer treten auf, und dieser Faustkampf wird auch von den Damen mit dem eifrigsten Interesse verfolgt. Aber mag die Unterhaltungsgabe der Engländer noch so weit von der durchgeistigten Grazie der französischen Konversation abstehen — das Granitmassiv von „eommon-sense", auf dem sich der englische Charakter und die englische Bildung aufbauen, hat doch imponirende Formen und Verhältnisse.
In der Politik stellt sich Steffen mit Entschiedenheit aus die Seite der Liberalen. Merkwürdig ist seine unbegrenzte Verehrung für Gladstone, diesen modernen Cicero,