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Deutsche Rundschau.
der sein großes staatsmännisches Dasein in dem Rahmen säst des ganzen neunzehnten Jahrhunderts ausgespannt hat, aber dabei beständig unter einer solchen Uebersülle von Gesichtspunkten und Affecten litt, daß er die Fähigkeit, einfache, klare Ziele zu verfolgen, immer mehr verlor. Die Typen, die uns der Verfasser sonst aus der parlamentarischen Welt vorfuhrt, der Marquis von Salisbury, Lord Rosebery und Andere sind mit Sach- und Personalkenntniß gezeichnet und gewinnen noch an Anschaulichkeit, ebenso wie die übrigen Abschnitte des Buches, durch zuverlässige, englischen Zeitschriften entlehnte Abbildungen. Der philosophische Spott eines Balsour, die joviale Heiterkeit eines O'Connor, die leidenschaftliche Rhetorik von Tim Healy, der energische Ernst des Arbeiterführers John Burns, die überlegene und wohlwollende Ironie des Marquis v. Salisbury: Alle treten mit derselben Deutlichkeit hervor.
Die schöne Literatur charakterisirt der Verfasser, wenn nicht erschöpfend, so doch geschickt nach ihren beiden Hauptgruppen, den dickbändigen Miß-Romanen und den „8ixp6nn^ 8boeker8^. Beide Arten von Romanen werden ebenso fabrikmäßig hergestellt wie die Baumwollwaaren von Manchester, und auch dieser literarische Produktionszweig leidet unter einer chronischen Ueberproduetion. Die Miß-Romane Werden fast ausschließlich von müßigen, wohlhabenden Leuten, meist Damen, geschrieben, und sind für Leser derselben Vermögensclasse berechnet; sie zeichnen sich, außer durch ihren ansehnlichen Umfang, durch die überraschende Gleichförmigkeit des Inhalts aus. Die ^billinz" oder „8ixp6im^ 8üoeÜ6r8^ erregen durch ihren, mit sensationellen Bildern in grellem Buntdruck verzierten Umschlag die Aufmerksamkeit und das Interesse der Ladenjünglinge und Dienstmädchen und verursachen durch ihre zusammengestoppelten Detectivgeschichten eine billige Nervenerschütterung. Aus dieser öden Mittelmäßigkeit erheben sich nur wenige Gipfel von einiger Bedeutung: George Meredith, der aus tiefere psychologische Probleme aus geht, Rudyard Kipling, der farbenreiche Schilderer Indiens. Als Dichter ist William Watson mit Auszeichnung zu nennen.
Ein genußreiches Capitel ist die Kritik der modernen englischen Maler. Ausfallend ist, daß der Verfasser unter den Sternen ersten Ranges den Namen Herkomer's vergißt, der freilich, gleich Alma-Tadema, nur ein naturalisirter Engländer ist, dessen Charakterköpfe aber doch einen verdienten europäischen Ruf erlangt haben.
Das Sehenswertheste, was uns Englands dramatische Kunst zu bieten vermag, sind die von Augustus Harris mit großer Pracht ausgestatteten Weihnachtspantomimen. In der Decoration sind die Engländer originell und freigebig. Selbst der berühmteste englische Schauspieler, Henry Irving, der Regisseur des Lyceum- theaters, beherrschte nur ein sehr kleines Gebiet. In den meisten Rollen, besonders in den Titelrollen der Shakespeare'schen Königsdramen, stolzirt er wie auf Stelzen über die Bühne und spricht affectirt. Die einzige Rolle, in der wir ihn mit echter Kunst spielen sahen, war im „Tobten Herzen" (voaä Haart); hier stellt er einen beim Sturm auf die Bastille befreiten Gefangenen dar, der, zum Skelett abgemagert, auf die Bühne wankt-
Diese Andeutungen mögen genügen, um auf den reichen Inhalt des Buches aufmerksam zu machen, das auch dem Kenner von Land und Leuten manche Anregung bietet und angenehme Erinnerungen wachruft.
H. v. Horn.
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