Literarische Notizen.
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Nachbarschaftsgilden. Ein Werkzeug socialer Reform. Von Stanton Coit, I'b. I). Autorisirte Uebersetzung aus dem Englischen. Berlin, Robert Oppenheim (Gustav Schmidt). 1898.
Eine interessante Mittheilung und Anregung aus dem Gebiete der englisch-amerikanischen Gemeinnützigkeit, insbesondere derjenigen Richtung derselben, welche aus der jüngeren Generation der englischen Universitäten hervorgegangen ist und die Ausfüllung der socialen Kluft zum Ziele hat. Der Verfasser sammelte in einem der ärmsten Stadttheile von London eine Schar junger Arbeiter um sich, hielt ihnen Vorträge über Dinge, die ihnen nahe lagen, knüpfte mit ihnen persönliche Beziehungen an, lud sie zu geselligen Unterhaltungen ein, denen sich bald der Familienanhang zugesellte. Dadurch kamen die Familien unter einander in nähere Beziehung für Freud' und Leid. So ist es dem Verfasser gelungen, ohne die Hülfe der wohlhabenden Klassen unter den ärmsten Klassen in London, New-Aork und anderen großen Städten ein Netz von Gilden zu bilden, deren Mitglieder — örtlich nah bei einander in einem Stadtbezirk -— sich im gegenseitigen Wohlfahrtsdienst unterstützen, belehren und emporheben. Im Unterschiede von allen anderen Vereinen betrachtet die Gilde die Familie als den Kern ihrer Gemeinschaft; sie strebt danach, alle Glieder einer Familie zu umfassen, auf alle zusammen und durch alle hindurch auf die Einzelnen zu wirken — während Gewerkvereine, Unterstützungs- kafsen, Arbeitervereine, Arbeiterinnenvereine, christliche Vereine für junge Männer, Mädchen- Heime, politische Vereine u. s. w. immer Scheidelinien ziehen zwischen Jung und Alt, Mann und Weib, Gewerbe und Gewerbe, Partei und Partei. Vielleicht findet die löbliche Absicht des Uebersetzers Anklang, und Aehnliches wird auch in Deutschland versucht. Die Schrift gibt eine ausführliche und sehr gemeinverständliche Anleitung dazu.
Das Programm der Handwerker.
Eine gewerbepolitische Studie von Hugo Böttger. Braunschweig, Druck und Verlag von Albert Limbach. 1893.
Die Schrift enthält weit mehr, als der Titel erwarten läßt. Der größere Theil derselben behandelt die Geschichte der Handwerksverfassung seit dem Mittelalter und besonders eingehend die wirthschaftspolitische Bewegung und Gesetzgebung des letzten Menschenalters auf dem Boden der neuen deutschen Verhältnisse. Hierbei stützt sich der Verfasser auf eine sehr gute Auswahl und Kenntnis; der wissenschaftlichen Vorarbeiten, von denen am Schlüsse des Buches ein längeres Verzeichniß gegeben ist. Volle zwei Drittel der Arbeit sind dieser gründlichen Fundamentirung gewidmet. Erst im letzten Drittel (Seite 181 ff.) geht der Verfasser zur Erörterung der heutigen Forderungen und Reformfragen des Handwerks über. — Durch diese Art der Behandlung erhebt sich die vorliegende Schrift, obwohl sie als eine populäre und praktische sich an den weiteren Kreis des Publikums richtet, doch ansehnlich über das alltägliche Niveau der verwandten ge
werbepolitischen Literatur. Dieser Behandlungsart entspricht auch eine den Extremen jeder Richtung objektiv und mäßig gegenüberstehende Haltung. Das Bedürfniß socialer Reformen für das Handwerk verkennt der Verfasser nicht, und gleichwohl spricht er so beherzigenswerthe Worte wie diese: „Sehr viele Menschen sind nun einmal in der Gegenwart geneigt, weniger der eigenen Kraft zu vertrauen, als von der Gesetzgebung und Verwaltung des Staates die unbedingte Hülfe in der Noth zu erwarten; dieser Glaube an die Allmacht der staatlichen Autorität hindert diese Leute freilich nicht, eine sehr scharfe Kritik an den von demselben Staate geschaffenen Gesetzen zu üben" (Seite 96). Sehr zutreffend ist die Erörterung über das Bedenkliche der neuen, auf Interessenvertretung sich aufbauenden wirthschaftlichen Parteien im Deutschen Reiche, zumal im Norden desselben, und die Zurückweisung des Jrrthums, die alten politischen Parteien hätten sich deshalb überlebt, weil sie diesen Neubildungen Platz zu machen haben. — Die neuen Reformvorschläge des preußischen Handelsministeriums hat die vorliegende Schrift noch nicht erörtern können, weil sie gedruckt war, bevor jene veröffentlicht wurden, x)/. Ueber die Alkoholfrage vom ärztlichen Standpunkte aus. Von Prof. Or. Adolf von Strümpell, Direktor der Medicinischen Klinik in Erlangen. Vortrag, gehalten in der II. allgemeinen Sitzung der 65. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Nürnberg am 13. September 1893. Leipzig, Verlag von F. C. W. Vogel. 1893.
Die Rede wendet sich gegen die Indolenz, mit welcher noch immer die Alkoholsrage selbst von ärztlicher Seite her behandelt wird. Sie setzt die schädlichen Folgen in den Erkrankungen der einzelnen Organe des Körpers, auf Grund theilweise neuer Forschungen, auseinander und spricht die Erwartung aus, daß die bessere Kenntnis; der zahlreichen Schädigungen durch die Alkohol-Jntoxication, die Beseitigung der immer noch herrschenden Vorstellungen von der Unschädlichkeit, ja der Nützlichkeit des Alkohols, durch die Aerzte der Masse des Publikums zum Bewußtsein gebracht werden möge. Der Verfasser bekämpft (was für das heutige Deutschland so wichtig ist) namentlich den verbreiteten Jrrthum, daß durch den Biergenuß der verderbliche Einfluß des Alloholismus vermindert werde. „Gerade unter der täuschenden Maske des scheinbar leichten, wohlschmeckenden, nahrhaften Genußmittels hat der Alkohol seinen verderblichen- Eingang gefunden in Kreise, welche ihm sonst vielleicht ganz verschlossen geblieben wären." — Diese Mahnung ist keineswegs die erste ihrer Gattung; seit dem umfangreichen Werke des. Geh. Sanitätsraths Baer über den Alkoholismus (1878) ist sie manches Mal wiederholt worden, und auch jenes Werk faßte zum Theil nur zusammen, was die Wissenschaft zuvor erarbeitet hatte. Aber gegen so verbreitete Mißbräuche muß der Angriff oft wiederholt werden, ehe ein Erfolg erreicht wird, ff. Ueber die Zukunft der Philosophie. Mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der