478
Deutsche Rundschau.
Jnaugurationsrede von Adolf Exner „lieber politische Bildung" als Rector der Wiener Universität von Franz Brentano. Wien, Alfred Holder. 1893.
Frisch und geistvoll geschrieben tritt die vorliegende Broschüre allen Zweifeln an der Zukunft der Philosophie gegenüber mit Entschiedenheit und in äußerst gewandter Weise für den Glauben an diese Zukunft ein: Exner hat Unrecht mit seinen entgegengesetzten Behauptungen, es steht wirklich mit der Philosophie nicht so schlimm, wie er meint; die philosophische Production ist nicht im Versiegen begriffen und das philosophische Interesse nur scheinbar erlahmt, in Wahrheit ist es noch äußerst rege, wie zahlreiche Thatsachen zur Genüge beweisen; auch ist nicht zu besorgen, daß es jemals erlischt. Freilich, die Philosophie geht heut' andere Wege, als sie zu Schelling's und Hegel's Zeiten ging. Die Methode, die sie heute schon großen- theils befolgt und einzig befolgen sollte, ist die naturwissenschaftliche, die allein zu sicheren Ergebnissen führt. Dies im Wesentlichen der Gedankengang des Brentano'schen Schriftchsns, das von Jedem mit Vergnügen gelesen werden wird, der seinen Glauben an die Unzerstörbarkeit des „metaphysischen Bedürfnisses" und seine Ueberzeugung theilt, daß nur auf empirischem Wege eine wissenschaftliche Befriedigung desselben möglich ist.
/?. Commentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft". Zum hundertjährigen Jubiläum derselben herausgegeben von I)r. H. Vaihinger, a.-o. Professor der Philosophie an der Universität Halle. Stuttgart, Berlin, Leipzig, Union, deutsche Verlags- gesellschast. 1892. '
Ein solches Werk hat lange gefehlt. Bei dem Umfang der einschlägigen Literatur war es dem Einzelnen kaum noch möglich, einen Ueber- blick über das positiv Geleistete zu gewinnen, die Ergebnisse einer hundertjährigen Geistesarbeit sich anzueignen und entsprechend zu benutzen. Der Vaihinger'sche „Commentar" gibt die Möglichkeit dazu. Er berücksichtigt fast - Alles, was seit dem Erscheinen der Vernunftkritik über den Gegenstand geschrieben und publicirt worden ist, ganz besonders eingehend die werthvollen Arbeiten aus der ersten Periode der Kant-Literatur, erörtert alle Schwierigkeiten und Dunkelheiten in ebenso klarer als gründlicher und selbständiger Weise und zieht auch die übrigen Werke Kant's, vornehmlich die „Dissertation" und die „Prologemena", um ihrer hervorragenden entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung willen, sowie Alles, was irgend geeignet erscheint, neues Licht auf dunkle Stellen zu werfen, zur besseren Erläuterung des Textes heran. Bei der Bedeutung, die die Vernunftkritik sür das philosophische Denken in positiver wie negativer Beziehung besitzt, erscheint ein derartiges Werk in hohem Grade geeignet, die Verständigung über streitige Fragen zu fördern, und dürfte sehr bald zu denen gehören, die dem Fachmann unentbehrlich sind.
/S. Religion und Religionen. Fünf Vorträge von Dr. Theobald Ziegler, Pro
fessor der Philosophie in Straßburg. Stuttgart,
Verlag der I. G. Cotta'schen Buchhandlung.
1893.
Ein anregendes, fesselnd geschriebenes Buch, das eine Reihe von geistvollen Untersuchungen und Betrachtungen über das Wesen der Religion, über Glauben und Wissen, über das Ver- hältniß der Religion zur Sittlichkeit und zur Kunst, über religiösen Individualismus und Mystik, über Polytheis - mus, Monotheismus und Pantheismus und andere bedeutsame Themata enthält. Ziegler erblickt mit Schleiermacher im Abhängigkeitsgefühl und in der Sehnsucht nach dem Unendlichen, die sich eng mit ihm verbunden zeigt das Wesentliche der Religion; auch auf Feuer- bach's Wunsch-Theorie greift er zurück. Gefühle — und Zwar die oben genannten — sind ihm der Urquell aller Dogmen und Glaubenslehren; in ihrem Dienst, von ihnen in Bewegung gesetzt, schafft unbewußt dichtend in den Tiefen der Volksseele die Mythen bildende Phantasie. In der näheren Ausführung dieses Grundgedankens tritt allenthalben in wohlthuender Weise das Feingefühl des Verfassers hervor. Der Geist, den seine Darlegungen athmen, und die Freiheit von aller Engherzigkeit berühren sympathisch, und der Grundgedanke wird sicherlich Vielen einleuchten, auch wenn ihnen, gleich dem Referenten, manche Einzelnheiten anfechtbar oder unhaltbar erscheinen.
Die Reconstruction der kirchlichen
Autorität. Von Ernst von Bnnsen.
Leipzig, F. A. Brockhaus. 1893.
Der durch eins Reihe theologischer Schriften als origineller Denker bekannt gewordene zweite Sohn des Freiherrn Christian Karl Josias von Bunsen unternimmt in diesem Büchlein den Versuch des Nachweises, daß das Christenthum durch den Apostel Paulus nicht etwa folgerichtig weiter geführt, sondern vom Geiste seines Stifters abgelenkt worden sei. Er schuf eine speculative Theologie, welche seither die Entwicklung der christlichen Kirche beherrscht hat, obwohl ihre Grundlagen mit der Lehre Jesu und mit dem Berichte der Apostel selbst im Widerspruch stehen. Der wahre Vertreter der Erbschaft Jesu war Petrus; er hatte die Schlüssel des Himmelreichs empfangen, d. h. das Recht der Zulassung Anderer in den Bund; er hatte die Aufgabe, den Glauben zu predigen, der die höchste Form individueller Ueberzeugung, an kein Dogma gebunden, und die Grundlage zum sittlichen Fortschritt sein sollte; insofern ist der Glaube die Religion des Himmelreichs auf Erden, der Bethätigung der Liebs zu Gott und dem Nächsten. „Niemand schrecke zurück vor der durch das Urchristenthum geforderten und unausbleiblichen Reformation der Kirche. Nur durch Anregung eines lebendigen individuellen Glaubens und durch eine von aller Dogmatik unabhängige, dennoch religiöse Sittlichkeit könnte die christliche Kirche die geistige Vereinigung aller religiösen Genossenschaften und dadurch den Frieden auf Erden herbeisühren." Aus diesem knappen Auszug der Schrift mag man ersehen, wie wenig der Petrus des Ver-