seiner dunklen Schwinge noch nicht emportragen. Aber das ganze Gebet teilte sich mir rhythmisch sofort in sechs Teile auf. Der erste Teil war ganz dunkel, ebenso der dritte:„Gott, der Herr“. Aber als Lichtpunkt glänzte zwischen zwei Dunkeln das leuchtende Wort:„Liebes Kind“, Von seinem Klang ließ ich mich streicheln; es tat mir wohl. Dann brachten wieder die Worte„sieht und weiß“ wenigstens ein verheißungsvolles Wallen in den Wortvorhang, hinter dem der Sinn sich barg.„Weiß“ empfand ich als licht, und es erschien mir um des Gegensatzes willen mit dem „sieht“ zusammengestellt, in dem ich ein Dunkles vermutete. „Alle Dinge“ erinnerten mich an den Dienstag, den ich in meinem Plattdeutsch als„Dingsdag“ bezeichnete. Nach der beschwerlichen Wanderung durch die vielen Fährnisse dieser Wortfolge bedurfte das abschließende„Amen“ keiner Aufhellung mehr. Es war einfach ein Freudenschrei über die glückliche Ankunft am anderen Ufer.
Mit Bedacht wird hier das Wort„Ufer“ gesetzt. Denn diese Sprechübung war in ihren Gefahren sehr wohl dem Überqueren vergleichbar des Baches, hinter dem unser Nachbar Jochen wie in einer Festung wohnte. Ob dieser Bach gleich so schmal war, daß die Planke einer ausgedienten Hobelbank ihn überbrücken konnte, sahen meine Kinderaugen ihn doch unheimlich groß und bedrohlich. Aber in der Gefahr lag eben auch eine Lockung, und jedes Überqueren des Baches war ein tapfer bestandenes Abenteuer.
Das Nachsprechen des Gebetes nun verschmolz in meinen Gedanken mit dem Überqueren des Baches auf der Hobelbankplanke zu einer Übung.„Fürchte Gott— liebes Kind— Gott der Herr— sieht und weiß— alle Dinge Amen.“ Mit fünf bedächtig wiegenden Schritten war das andere Ufer zu gewinnen. Die Augen fanden dabei einen Halt an den Bankhakenlöchern, die am rechten Saum der kleinen, geländerlosen Brücke hinliefen. Und wie der noch über dem Ungewissen schwebende Fuß sich mit der letzten Bewegung ganz schnell und bedenkenlos seinem Bruder zugesellte, der schon auf festem Boden stand, so folgte dem „Alle Dinge“ das„Amen“ pausenlos und im Ton zu einem kleinen Triumphschrei gesteigert.
Zuletzt war es ein schönes Spiel, immer schneller und unbesonnener und doch des Gelingens sicher über die Brücke zu lau
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