RAUM UND ZEIT
Eine Betrachtung aus der Luhnstedter Perspektive
Der Säugling, der seiner Mutter die Arme aus der Wiege entgegenreckt, möchte den Raum überwinden, der ihm die unmittelbare Erfüllung seiner Wünsche verwehrt. Einige Monate später bewegt er sich kreischend am Boden und entwickelt zum Zwecke der Raumüberwindung seine individuelle Technik, die das Ergötzen der Eltern ist. Und wieder Monate später, nachdem es schon gelernt hat, sich an Sesseln, Schränken oder Tischen aufzurichten, verzichtet das Kind in einem heldenhaften Entschluß plötzlich auf die Stütze und geht mit tolpatschigen Schritten, immer vom Fall bedroht, von seinem Standort hinüber zum Sessel des Vaters, der es, wenn das verheißungsvolle Schwinden des feindlichen Raumes zuletzt zu unvorsichtiger Hast verleitet, eben noch rechtzeitig auffängt, so daß dies gefährliche Unternehmen in Lobsprüchen des Vaters und triumphierendem Kreischen des Kindes sein Ende findet. Es hat zum ersten Male den Raum in aufrechter Haltung überwunden, hat in die Vertikale gefunden und damit das Reich des Rein-Kreatürlichen verlassen. Im Gefühl des eigenen Stolzes und aus den Lobsprüchen, mit denen der Vater es nun überhäuft, kommt ihm vielleicht eine dunkle Ahnung von der Bedeutung des Augenblicks. Dies ist eine sehr wichtige Etappe am Wege zur Menschwerdung. Das Kind ist in die Reihe der geistbestimmten Wesen eingetreten und hat von nun an den Kopf oben zu tragen.
Ist nicht alles menschliche Tätigsein in einem bestimmten Sinne Raumüberwindung, und sollte es nicht möglich sein, von diesem Gedanken her die Geschichte der Zivilisation zu erzählen? Der ergötzliche Schwank von den„Sieben Faulen“ zu Bremen scheint mir von dieser Annahme auszugehen. Eroberung des Raumes nun wird immer nur möglich durch Opfer an Zeit, und so treten Raum und Zeit in ein eigentümliches Spannungsverhältnis. Auf diesen Gedanken kam ich schon sehr früh, und ich durfte auf ihn
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