Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
Seite
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HEIMELIG-UNHEIMLICHE STUNDE

Es liegt ein heißer Sommernachmittag über dem Dorf. Des Sonn­tags wegen ist es still auf den Straßen, die sonst zu dieser Zeit hell knattern unter der freudigen Eile leerer Wagen, die sich vom Dorf entfernen, dumpf schüttern, wenn dieselben Wagen mit der gesegneten Last des Erntegutes langsam heimrollen, den Scheunen zu. In diesem Sommer des Jahres 1898 werde ich mein achtes Lebensjahr vollenden. Heute ist der 31. Juli.

Ich sitze an dem Bach, der neben meinem Elternhaus in einem rechten Winkel auf die höhergelegene Dorfstraße prallt, der, nachdem die gestauten und zurückgeworfenen Wasser eine herr­liche Kuhle aufgewühlt haben, ein paar hundert Meter wie ratlos neben der Straße herläuft, bis er sich zu einem neuen, entschlosse­nen Vorstoß. in die westliche Richtung gesammelt hat. Dies müßte nun wieder den Steindamm ratlos machen; aber der Brücken­bauer hat sich an dieser Stelle seiner erbarmt. An den hilden Erntetagen ist es ein halb schauerliches Vergnügen, unter der Brücke auf der Sandbank zu sitzen, wenn die Wagen über die Bohlen donnern. Aber der Lärm und die Stille, jedes hat seine Zeit, und dieser Sonntag gehört der Stille.

Heute habe ich mir nicht fern der Brücke die Stelle gewählt, wo der Spiegel des Baches etwa zwei Meter tiefer liegt als die Straße. Eine wuchernde, niebeschnittene Hecke grenzt beider Ge­biete gegeneinander ab. Aus dem unruhigen Gewirr des niederen Holzes steigen in königlicher Ruhe alte Ulmen auf. Dem eilferti­gen Fremden, den der Zufall des Weges führt, ist der Bach hinter einer grünen Wand verborgen. Wer zum Dorf gehört, der weiß wohl: dahinter fließt die Au; aber das hochfahrende Wissen redet ihm ein, er brauche nun ferner nicht danach zu schauen. Die Leute betrügen sich in geschäftiger Eile und anmaßendem Wissensstolz um viel Schönheit.

Wer sich Muße läßt, die widerspenstigen Zweige der Hecke auseinanderzubiegen, der sieht eine Welt, die in allem das Jen­seits der Straße ist. Da ist milde, grüne Dämmerung statt der

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