Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
Seite
131
Einzelbild herunterladen

TAGE DER FÜLLE

Das Heimweh nimmt sich vor, einen Septembertag der frühen Kindheit zu beschwören! September! Das Wort schwingt wie der volle, feierliche Ton einer großen Glocke, die eine Zeit der Fülle einläutet. Wohl habe ich in späteren Jahren den Monat der Fülle in einem reicheren, bewegteren Lande gesehen; aber ergreifender war er um mich im kargeren holsteinischen Flachland in der Heimat.

Im fernen Lande führte der September an allen Hängen die Trauben der vollen Reife zu. Das dichte Grün der Rebenreihen war leise schon gelichtet, und durch alle Lücken brach lockend das tiefe Blau schwerer Trauben. Eine allerletzte Süße fehlte ihnen noch; aber wenn am Morgen eine der Trauben besonders schön und ebenmäßig mit den Perlenschnüren des Taues um­sponnen war, griff meine Hand gedankenlos zu, und es labte mich die taugekühlte Glut der schönsten Beere. In den Gärten lagen Melonen schwer und rund in welkendem Gerank. Hatte einmal das Messer den grünen Panzer der Frucht durchstoßen, dann glitt die Schneide leicht durch das goldrote Fleisch, und der duftende Saft strömte mir über die Hand. Trauben und Melonen nur sollen als die köstlichsten Früchte hier genannt sein. König­lich überragend standen sie inmitten eines unabsehbaren Heeres überall noch hochgewachsener Frucht.

Aber da ich an einem dürftigen, schneenassen Januartage, aus innerem Ungenügen wegstrebend, in wahlbereit daliegenden Er­innerungen den Monat der Fülle suche, gehe ich nicht ins fremde Land. Sein September spricht doch trotz aller Schönheit zuerst den Gaumen an. Speise aber, die dem Gaumen schmeichelt, hilft nicht hinweg über seelisches Ungenügen. Nun suche ich den Mo­nat der Fülle da, wo ich ihn einst in seiner Vollendung erlebte: in der Heimat, in der Kindheit.

Vor meinem Elternhause bog von der Dorfstraße das Redder ab und führte in die Felder. O Fülle du der Frucht an einem holsteinischen Redder! Gesträuch der verschiedensten Art wächst

131