ERSTES ERWACHEN
Ich möchte meinen, daß das Erwachen zum Selbstbewußtsein auf eine geheimnisvolle Weise verbunden ist mit der Fähigkeit, dem Strom der Zeit zu entsteigen, der einen bis dahin getragen hat. Gelangt der Mensch an das Ufer, sieht er zum ersten Male den Strom von außen, empfindet er ihn ganz dumpf als aus geheimnisvollen Fernen kommend und ebenso geheimnisvollen Fernen zustrebend, so fühlt er sich auch zum ersten Male abgegrenzt gegen alles, was mit ihm sonst im Strome trieb, findet er sich selbst.
Mir ist das Glück dieser Stunde ganz früh beschieden gewesen. Von dem Vorhang, der mir das Leben verbarg, wurde einmal, sehr früh, ein Zipfel zurückgeschlagen, und eine verheißungsvolle Helle schlug mir entgegen. Dann muß wieder tiefes Dunkel gewesen sein. Erst nach langer Zeit war mir wieder ein Blick in das bewußte Leben hinter dem Vorhang gestattet. Länger hielt die unsichtbare, gütige Hand den Vorhangzipfel hochgefaltet. Es war in den Tagen, als meine Schwester geboren wurde. Aber auch danach war noch wieder tiefe Dunkelheit. Wie lange sie gewährt haben mag, kann ich nicht sagen. Der Schläfer, wenn er des Nachts erwacht und die schon verschlafene Zeit, die er nicht messen konnte, nun wenigstens überschlagen möchte, weiß wohl, wie sehr er sich da täuschen kann. Meint er, kaum eine Stunde geschlafen zu haben, so steht das Kreuz seines Fensters schon auf lichterem Grund, und der Morgen kündet sich an; wenn er aber erwachend des Hahnenschreis harrt, schlägt vom Turm eben die Stunde der Mitternacht.
Es weiß wohl kein Mensch zu sagen, an welchem Tage der Vorhang für ihn ganz auseinanderrauscht und sich nicht wieder schließt. Wie könnte der Mensch auch ein Ereignis sicher in die Zeit setzen, dessen einzigartige Bedeutung er erst viel später zu ermessen vermag! Und wenn auch der Vorhang zurückgeschlagen bleibt, so ist das Leben dahinter so verworren und unübersichtlich, daß der kleine, ohnmächtige Geist die große Veränderung nicht sofort faßt und für ihn in der jähen, unfaßbaren Entblößt
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