Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
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langsam verfestigt und erst allmählich Wirklichkeit wird. Aber kaum darf der reife Mensch dem Ergebnis dieses Vorganges mehr als ein paar Jahre in gutem Glauben an eine Wirklichkeit gegen­überstehen. Schnell setzt die Rückbildung ein. Wirklichkeit will wieder schwankende Erscheinung, Leben will in einem weiteren und verwandelten Sinne wieder zu Traum werden. Wenn einem Menschen inmitten des Grauens und der Not dieser Welt ein heimliches Gefühl kommt, daß vor der unerahnbaren Wirklich­keit Gottes und seines Reiches dies alles nichts bedeutet, dann ist ihm Gnade geworden. Und sollte nicht auch einem Kinde, das mit seinem kleinen Traum eingeschachtelt ist in den größeren Traum, den wir Wirklichkeit nennen, sollte nicht auch ihm der Augenblick, in dem es sich seines Träumens bewußt wird, viel mehr Erhebung als platte Ernüchterung sein? Denn die Gewiß­heit, im Schutze guter Mächte zu wandeln, konnte durch das, was wir oben eine kleine Vernünftelei nannten, nicht erschüttert werden. Gott, den ich mit Namen nicht zu nennen wußte, hatte mich bei meinem Namen gerufen.

Das war das Große dieses kleinen Erlebnisses, und darum finde ich es so wohlerhalten in meinem Gedächtnis verwahrt. Die Bil­der sind von ehemals, die Deutung ist von heute. Dazwischen klafft ein Zeitabgrund von mehr als vier Jahrzehnten, und doch meine ich, mit junger Deutung alte Bilder nicht verfälscht zu haben.Jeden mit anderer Stimme ruft Gott.

Ich rühme mich wahrlich des Rufes nicht, der an mich ergangen ist. Ich will nur zu meiner Tröstung den verhallten Ton der Got­tesstimme wieder beleben, und in Demut bekenne ich, daß Gott mir auf meinen täglichen Gängen sein Geleite versagt. Das Er­Jebnis aus frühen Jahren aber bestärkt mich wieder und wieder im Glauben. Gott kann nicht vergessen. Da er mich so früh an­sprach, hat er mit mir etwas vor.

Und nun lebe ich immer wie im Vorzimmer eines hohen Herrn. Auf der Straße, bei zufälliger Begegnung, hat er mir flüchtig zu­gerufen:Ich rede noch mit dir. Nun sitzt er dort hinter der verhangenen Tür, einen Namen nach dem andern ruft der Diener auf, einer nach dem andern hat seine Zwiesprache mit dem Herrn. Und ich stehe und warte. Es ist spät geworden, sehr spät, und die Leute sagen wohl mit scharfem Tadel oder auch nur mit einem

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