Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
Seite
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Ist nicht die Sprache aller Wunder wunderbarstes? Vergeblich bliebe das Bemühen, die Fülle ihrer Macht auszudeuten, und nur an eines sei gemahnt. Wenn ein Tag hinabsinken will in den Schlund des Vergangenen, der vom Verschlungenen nichts wieder hergibt, so fassen wir vom Inhalt dieses Tages das Bedeutende und heben es hinein in den Raum der Sprache, welcher der Ver­gänglichkeit entzogen ist. Die vergangenen Taten unseres Volkes, seine verklungenen Lieder, seine ausgelebten Gedanken bleiben in diesem Raum gegenwärtig, und wenn die in Gott vorbedachte Gesamtheit des irdischen Geschehens bei so beschränktem Raum nur im Nacheinander der Zeit sich verwirklichen kann, so ist doch der Raum der Sprache solchen Beschränkungen nicht unter­worfen. Was auch unser Volk in ihn noch hineinstellen mag, nie­mals wird es ihn füllen. Jedem Volk ist es möglich, seinen Sprach­raum in die Unendlichkeit hinauszubauen, und aller Sprachen wachsende Unendlichkeiten finden nebeneinander Raum in der einen Unendlichkeit Gottes. In seiner Sprache gewinnt der Mensch Anteil an Eigenschaften, mit denen wir Gottes Wesen umschrei­ben; in seiner Sprache wird der Mensch allgegenwärtig, unver­gänglich, unendlich.

Nach einem solchen Blick auf die Sprache gewordene Größe eines Volkes ist die Rückkehr zu den Begebnissen des eigenen kleinen Lebens ein Wagnis, zu dem ich mich nur mit Zagen ent­schließe, für das sich aber am Ende doch eine Rechtfertigung finden lassen wird. Und wie 999 Worte, die laut und mit herr­scherlicher Gebärde an große Dinge rühren wollen, doch tot bleiben, während im tausendsten, das leise und wie beiläufig er­klingt, Leben geheimnisvoll aufglüht, so sind vielfach die soge­nannteneinschneidenden Ereignisse ganz folgenlos, und oft nach Jahren erst erweisen die kleinen Erlebnisse ihre lebenge­staltende Gewalt.

Warum mußte meine Mutter ihrem kleinen Sohn immer wieder die Verserzählung vonNudelmüllers Neujahrsnacht aus einem zerschlissenen Kalender vorlesen? Ich verstand ja nicht einmal die hochdeutsche Sprache und konnte darum den mitgeteilten Ereignissen nur ahnungsweise folgen. Dennoch war der Zauber so groß, daß ich lange Zeit täglich versuchte, meine Mutter von drängender Arbeit weg zum Vorlesen in die Stube zu ziehen mit

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