Ist nicht die Sprache aller Wunder wunderbarstes? Vergeblich bliebe das Bemühen, die Fülle ihrer Macht auszudeuten, und nur an eines sei gemahnt. Wenn ein Tag hinabsinken will in den Schlund des Vergangenen, der vom Verschlungenen nichts wieder hergibt, so fassen wir vom Inhalt dieses Tages das Bedeutende und heben es hinein in den Raum der Sprache, welcher der Vergänglichkeit entzogen ist. Die vergangenen Taten unseres Volkes, seine verklungenen Lieder, seine ausgelebten Gedanken bleiben in diesem Raum gegenwärtig, und wenn die in Gott vorbedachte Gesamtheit des irdischen Geschehens bei so beschränktem Raum nur im Nacheinander der Zeit sich verwirklichen kann, so ist doch der Raum der Sprache solchen Beschränkungen nicht unterworfen. Was auch unser Volk in ihn noch hineinstellen mag, niemals wird es ihn füllen. Jedem Volk ist es möglich, seinen Sprachraum in die Unendlichkeit hinauszubauen, und aller Sprachen wachsende Unendlichkeiten finden nebeneinander Raum in der einen Unendlichkeit Gottes. In seiner Sprache gewinnt der Mensch Anteil an Eigenschaften, mit denen wir Gottes Wesen umschreiben; in seiner Sprache wird der Mensch allgegenwärtig, unvergänglich, unendlich.
Nach’ einem solchen Blick auf die Sprache gewordene Größe eines Volkes ist die Rückkehr zu den Begebnissen des eigenen kleinen Lebens ein Wagnis, zu dem ich mich nur mit Zagen entschließe, für das sich aber am Ende doch eine Rechtfertigung finden lassen wird. Und wie 999 Worte, die laut und mit herrscherlicher Gebärde an große Dinge rühren wollen, doch tot bleiben, während im tausendsten, das leise und wie beiläufig erklingt, Leben geheimnisvoll aufglüht, so sind vielfach die sogenannten„einschneidenden“ Ereignisse ganz folgenlos, und oft nach Jahren erst erweisen die kleinen Erlebnisse ihre lebengestaltende Gewalt.
Warum mußte meine Mutter ihrem kleinen Sohn immer wieder die Verserzählung von„Nudelmüllers Neujahrsnacht“ aus einem zerschlissenen Kalender vorlesen? Ich verstand ja nicht einmal die hochdeutsche Sprache und konnte darum den mitgeteilten Ereignissen nur ahnungsweise folgen. Dennoch war der Zauber so groß, daß ich lange Zeit täglich versuchte, meine Mutter von drängender Arbeit weg zum Vorlesen in die Stube zu ziehen mit
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