Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
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drüben zu meinem grenzenlosen Staunen wider alles Erwarten keinen fürchterlichen Abgrund. Vielmehr war der Wall nur um ein Geringes höher als die dahinterliegende Koppel. Der Sprung war kein Wagnis. Raschelnd schloß sich hinter mir das Gebüsch, und obwohl die vertrauten, hallenden Hammerschläge aus der Werkstatt meines Vaters kaum gedämpft zu mir herüberklangen, stand ich in einer verwandelten Welt.

Die Knicks schienen ihre Natur verändert zu haben. Die Welt ist so groß; aber immer sind für Kinderfüße aus dem Raum nur kleine Streifen zum Begehen herausgeschnitten, und da es nun einmal so vieles gibt, was Kinder noch nicht wissen dürfen, so stellen sich die Knicks an jedem Weg auf hohe Wälle und ver­sperren die Sicht. Hier nun traten die eifersüchtigen Wächter zu­rück und gaben Raum. Fern am Horizont erst tauchten sie wie­der auf; vor einem weiten Himmel stand ihre niegeschaute Sil­houette. Und dort ragte aus Eichen- und Hagebuchengestrüpp, das noch sein rostbraunes, starr- und krausgewordenes Herbst­Jlaub trug, hoch und schwarz ein sonderbar geformter Baum heraus. Es war eine Stechpalme, die allerdings auffallen mußte. Andere Bäume ließen jetzt den Blick durch das Gewirr ihrer nackten Zweige hindurchgehen; aber die schwarze Fläche der Stechpalme war recht als ein Blickfang hingestellt. Der schöne Baum war in seiner Gestalt einem Tier vergleichbar, das sich aufgerichtet hat; in Furcht und Ehrfurcht hieß ich esLöwe. Dort im Löwen war das Geheimnis, das schön ist und zugleich schreckt. Das Gefühl, dem Löwen nicht nahe kommen zu dürfen, war vorerst wohl nur eine Spielerei. Vorsichtig ging ich am Wall entlang, vorbei an einer Tränkstätte für das Vieh, einer ver­schlammten Kuhle mit unheimlich schwarzem Wasserspiegel. Mein täglicher Spielgefährte, der kleine Bach an der Dorfstraße, war immer geschwätzig, und so mußte die abweisende Stille um diese Kuhle zu dem Versuch locken, ihr Wasser dennoch zum Re­den zu bringen. Ich warf ein paar Steine hinab; aber es geschah doch nur sehr nebenher. Denn mächtig gewachsen war inzwischen die Drohung, die vom schwarzen Löwen herüberkam. Zwar stand er dort reglos auf dem Wall; aber der Raum zwischen uns, ob er gleich weit war, baute keinerlei Hindernis auf, und in gewaltigen Sätzen mochte das Ungeheuer sein Opfer schnell erreichen. Ich

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