Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
Seite
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An einem Novembermorgen meines ersten Schuljahres geschah mir ein Wunder. Häßlicher grauer Nebel drückte gegen die Fen­ster der Schulstube, die noch in halbem Dämmer lag. Ich war wohl noch müde, und also schien dem Schulbetrieb jeder Schwung zu fehlen. Was auf der großen Seite als Religionsunterricht vor sich ging, kam als ein sinnloses, eintöniges, einschläferndes Ge­murmel zu mir herüber. Lebendig waren im Raum nur die roten Lichter, die sich nach jedem geheimnisvollen Poltern im Ofen­innern aus der offenen Tür wie im Übermut auf blankes Blech purzeln ließen, sich einen Augenblick in wildem Tanz vergnügten und dann erloschen.

Als meine Augen wieder einmal zum Fenster gingen, schien die Nebelwand mehr in die Ferne des Spielplatzes zurückge­wichen zu sein. Standen die kahlen Linden an der Längsseite des Hauses vor kurzem noch zu Ungeheuern auseinandergezerrt in der Ungewißheit des Nebels, so machte die Sicherheit jungen Lichtes ihre Gestalt dem Auge aufs neue faßlich und vertraut, und um das schwanke Gezweig spielte ein rötlicher Schein. Das stumpfe Grau der weichenden Nebelwand geriet in ein lebendi­ges, silbriges Sprühen, in das sich langsam wachsend eine feine Röte mischte.

Da lichtete sich auch der Sprachnebel über der großen Seite. Nun verstand ich einzelne Worte von dem, was drüben gespro­chen wurde. Das Verständnis wurde mir erleichtert durch ständige Wiederholung; denn eben überzeugte sich der Lehrer, ob auch jeder Schüler die Worte des Psalmisten zufriedenstellend aus­wendig wußte.

In einem letzten Ansturm wurde draußen die Sonne des er­schütterten Nebels plötzlich Herr; durch die Fenster ergoß sich das siegende Licht. Und sein überwältigender Einbruch war wie ein Schrei des Triumphes. Wie Sturmbalken, die die Mauern des Nebels niedergewuchtet hatten, schob die Sonne ihr Licht in die Stube, und es zeigte sich, daß die Balken genau nach dem Maße der Fenster geschnitten waren. Es mußte als ein Wunder gelten, wenn die Scheiben nicht alle zerklirrten. Ganz körperlich ging das Licht vom hohen Fenster schräge nieder, und zu meinen Füßen, auf dem freien Platz vor der ABC-Schützenbank, legte es sich auf den Boden.

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