kurzen Probeflüge eine letzte Sicherheit gegeben haben, so entfalten sich nun die Schwingen ganz, und mit dem seligen„Nähme ich Flügel der Morgenröte“ wirft sich das Fliegende vertrauensvoll hinaus in die Unendlichkeit, scheint völlig frei zu sein und keinem Ziele hörig, und doch endet jeder Flug unentrinnbar auf Gottes Hand.
Seitdem erscheinen mir vollendet schöne rhythmische Einheiten immer im Bilde einer Flugbahn. Im Anflug schon entschleiert sich des Ganzen Verlauf. Wenn hier etwas versehen ist, so gelingt dem Bogen sein gesetzmäßiger Schwung nicht, und geht er nieder, so folgt der ersten Berührung mit dem Boden ein ungeschicktes Nachhoppeln mit gespreiztem Gefieder. Der rechtbeschaffene Flug kann immer nur an einer Stelle enden, und die erste und endgültige Wiederberührung mit dem Boden wird wie selbstverständlich eins mit dem geräuschlosen Falten der Schwingen.
Wohl weiß ich, daß ich dieser Stunde mit dem 139. Psalm hier in aller Bewußtheit und Ausführlichkeit eine Festlichkeit gebe, die damals gewiß halb traumhaft und sehr kurz gewesen ist. Auch habe ich mich wohl an diesem Tage nicht anders als sonst in die Spiele der Pause gestürzt, und vielleicht gab es auch einen Kinderzank mit der vollen Entfaltung kindlicher Bosheit. Vielleicht fiel der Edelstein dieses Erlebnisses bald tief in den Kehricht des Alltags. Es ist wohl so, daß dem Menschen die Kostbarkeiten seines Lebens nicht immer mit festlichem Gepränge auf samtenem Kissen feierlich überreicht werden. Oft genug muß er heimliche Gaben, deren er nicht achtnahm, mit spätem Erkennen aus dem Kehricht seines Lebens aufheben.
Zwar habe ich den Edelstein dieser Stunde nie für lange Zeit aus der Hand gelassen. Doch ist mir seine wahre Bedeutung erst nach vielen Jahren aufgegangen. Immer tiefer ins Bedeutungsvolle wuchs sein Glanz. Er ist mein altes Gut aus Kindertagen, und wenn ich ihm heute eine Fassung gebe, an deren Fertigung die ganze Erfahrung meines Lebens mitbeteiligt ist, so darf mir keiner sagen, daß ich des Steines Leuchten verfälsche.
Nach diesem Tage habe ich mein Bewußtsein noch einmal zurückgleiten lassen in seinen kindlichen Schlaf. Bevor ich ihn ganz abtat, hatte ich schon einmal hellwach aufrecht in meinem Bett gesessen. Der Nachhall meines Namens blieb noch einen
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