Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
Seite
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Selten trägt einer das Bild des Urgroßvaters im Gedächtnis. Die Angehörigen so versunkener Zeiten kommen am Tage der Toten nicht mehr auf die Oberwelt; sie haben sich in ein tiefergelegenes Tal der unteren Welt zurückgezogen. Bauern waren sie, die in den Gang des großen Weltgeschehens nicht eingegriffen haben und deren Namen und Taten darum im Buch der Geschichte nicht verzeichnet stehen. Bauern waren sie, die da pflügten und säten, ernteten und droschen, die zeitloses Bauernwerk taten und dar­um der Zeit entfielen. Das Gestein der Geschichte, zu dem die fließende Zeit erstarrt, bewahrt an seinen Kluftwänden keinen Abdruck ihrer Gestalt. Im Kirchspiel Jevenstedt faßt sich dem lebenden Vertreter eines Geschlechts die Vergangenheit meistens im Großvater zusammen.

Vier oder fünf Dörfer des langgestreckten Pfarrbezirks taten sich in alter Zeit schon zu einer engeren Gemeinschaft zusammen, in der alle Verhältnisse immer übersehbar bleiben. Eheschließun­gen schossen in diesem engen Raum unablässig hinüber und her­über, und immer engmaschiger wurde das Netz der Verwandt­schaft, das die Menschen zusammenhielt und absonderte. Man glaubte, das Leben gegen jeden Einbruch des Unberechenbaren und Abenteuerlichen abgedichtet zu haben, und im Zweifelsfalle konnte man von den Grabsteinen in Jevenstedt entscheidenden Rat ablesen.

Die verbündeten Dörfer liegen im Westen von Luhnstedt, und der Weg in Freundesland folgt dem Lauf der Luhnau. Der Betrach­tung ihres Gesellschaftslebens und der Erdoberfläche haben die Menschen früh das Gesetz abgewonnen, daß die Wälder auf den Gebirgen trennen, die Ströme in der Ebene aber verbinden. Jedes anständige Gesetz muß auf allgemeine und unverbrüchliche Gül­tigkeit halten, und so erwies sich in der Landschaft meiner Jugend auch dieses noch so weit wirksam, als es von ihm nach einer ge­waltigen Verkürzung der Maße billig gefordert werden durfte. Denn was bei uns stellvertretend Gebirge sein muß, klimmt im Süden, hinter Nindorf, bis zur Höhe von 82 Metern empor, während im Osten dem wetteifernden Hanradesberg bei 76 Me­tern der Atem vollkommen ausgegangen ist. Und die Luhnau ist trotz aller Schönheit und der Mannigfaltigkeit ihres pflanzlichen und tierischen Lebens dem unbefangenen Betrachter doch wohl

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