Luhnstedt im Jahre 1900! Schmale, gewundene Wege führten im Sommer durch tiefen Staub und im Winter durch ebenso tiefen Schlamm zwischen hohen Knicks hin in eine Einsamkeit, vor der das veloziferische Zeitalter noch erschrak. Hinter den Wäldern zu Osten des Dorfes, in einer Entfernung von zehn Kilometern, lief die Eisenbahn hin, die keineswegs als notwendig und unentbehrlich empfunden wurde, sondern mehr als das Riesenspielzeug einer Art von Menschen, die man zwar mit Mißtrauen beobachten mußte, am Ende aber doch mit einem Achselzucken gewähren lassen durfte, weil Luhnstedt eben Luhnstedt war, ein Dorf, das mit seinen von jeher freien Bauern nach eigenen Gesetzen lebte und für das„1900“ eine um mindestens 100, vielleicht auch 200 Jahre vorverlegte Zeitbezeichnung darstellte.
Hier stand die tägliche Nötigung zur Raumüberwindung noch unangefochten im Zeichen von„Pferd und Wagen“. Als eine Bauerntochter sich nicht erschüttern ließ in ihrem Entschluß, einen Handwerker zu heiraten, da faßte die Mutter ihren tiefen Kummer über die in ihrer bedenkenlosen Freiwilligkeit völlig unverständlich gewordene Deklassierung in die Worte:„He hett jo keen Peerd un Wagen!“ Pferd und Wagen bestimmen im dörflichen Leben den Rang. Aber ich war nie im eigentlichen Sinne ein Dorfjunge, und die sonst doch wohl einigermaßen suggestive Wertordnung der Umwelt hatte über mich keine Gewalt.
Obwohl mir Pferde zeitlebens etwas unheimliche Tiere geblieben sind, war doch gelegentliches Reiten ein hoher Genuß. Vielleicht lag gerade im Unheimlichen das Anziehende. Im Sommer gehörte es zu den Obliegenheiten der Hofsöhne oder der Dienstjungen, nach getanem Tagewerk die Pferde auf die Weide zu bringen. Unser Haus lag am Dorfausgang, und so konnte ich hinter der nächsten Wegbiegung ungesehen ein— natürlich ungesatteltes— Pferd besteigen. Entgegen strenger Weisung des Bauern wurden die abgearbeiteten Gäule dann auch noch einmal zum Trab oder gar zum Galopp gezwungen.
Hans Göttsche— sein hämisches Lachen belehrte mich darüber — legte es darauf an, mich zum„Sandrüter“ zu machen, mir die Schmach des Abfallens zuzufügen. Der Zuckeltrab des Anfangs hatte denn auch seine Gefahren. Meine noch kurzen Beine konnten den gewaltigen Pferderumpf nicht ausreichend umklammern,
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