Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
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unter einen Spalt hielt. Und nun bedauerte ich sehr, keinMär­chenbuch mitgenommen zu haben; denn dies erschien mir als eine kaum überbietbare Bestätigung menschlicher Würde und Freiheit: zu lesen, während dienstbare Mächte für mich die Über­windung des Raumes übernahmen. Es mag mich dunkel die Ahnung bewegt haben, daß sich auf solche Art ersparte Kraft und ersparte Zeit unmittelbar für das Leben der Seele nutzbar machen ließen. Und wie schön war der Gedanke, in meiner Höhle vor zudringlichen Blicken sicher zu sein! Daß man durch Lesen am hellichten Tage und in aller Öffentlichkeit den dörflichen Wohlanstand verletzen kann und also Strafe in der Form spötti­scher Reden verwirkt hat, das war mir zu meiner Bestürzung schon klargemacht worden. Im Dorf gilt das Lesen als ein Laster, und darum ist es besser, ihm heimlich zu frönen.

Aber noch einmal trete Hans Vollert, der Unvergleichliche, als mein Vetturino auf den Plan! Im späten Sommer sprach er einmal beiläufig von seinem Plan, den Rendsburger Herbstmarkt zu besuchen.Hans, fragte meine Mutter mit plötzlichem Ent­schluß,hättest du dann nicht einen Platz auf deinem Wagen für mich, und vielleicht auch für den Jungen? Und darauf der Gute in hoher Emphase:Marieken, alte Deern, und wenn kein Luhnstedter den Rendsburger Markt zu sehen bekommt, du wirst ihn sehen. Dafür laß mich sorgen! Aber das sage ich dir: wer um Punkt sieben Uhr nicht auf meiner Hofstätte ist, der hat das Nachsehen.

Am Morgen des ersehnten Tages legte meine Mutter bei der Erledigung ihrer Hausarbeiten einen Gleichmut und eine Lahm­heit an den Tag, die mich aufs höchste befremden mußten. Als ich sie an das Gefahren bergende Geheiß erinnerte, um sieben Uhr spätestens auf der Hofstätte zu sein, antwortete sie nur mit einem spöttischen Lachen, das sagen zu wollen schien:Ach, Gerichtsdiener Schramm! Wer kennt ihn nicht?

Sie kannte ihn, und als wir mit einer für mich tief beunruhi­genden Verspätung endlich die vielberedete Hofstätte betraten, lag diese denn auch in ihrer habituellen Unaufgeräumtheit so ver­lassen da, daß das Schlimmste zu befürchten stand. Aber meine Mutter kannte ja ihren Schramm und blieb völlig ruhig. Wir

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