Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
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Mein Bruder mochte da gegenüber dem ganz Urteilslosen der Versuchung erlegen sein, mehr zu geben, als er hatte. Denn immerhin gehörte er trotz des Vorsprunges, um den ich ihn herz­lich beneidete, noch nicht zu denGroßen, von denen eine kleine Auswahl außerhalb des regulären Unterrichts in dieNach­stunde ging. Dort hatten die Erwählten, wenn die Algebra zu ihrem Recht gekommen war, auch Aufsätze über tiefsinnige Dich­terworte zu schreiben, hatten also die Neigung der argen Welt zum Schwärzen des Strahlenden nachzuweisen an Beispielen a) aus der Religion, b) aus der Geschichte, c) aus der Dichtung, d)aus dem täglichen Leben. Soweit diese Ordnung zugleich einen Rang festlegen sollte, war ich mit ihr nicht einverstanden. Die Dich­tung war falsch untergebracht, sie hätte an erster Stelle stehen müssen; wohingegen die Beispiele aus dem täglichen Leben unter d) an dem Orte standen, der ihrer Erbärmlichkeit entsprach.

Unter denSchriften der Böttcherkate wurden einige Bände mit besonderer Auszeichnung behandelt. Als Eigentum meines Onkels Fritz waren sie sozusagen aus dem täglichen Verkehr ge­zogen und hatten ihren Platz auf dem Schrank, wo ihnen von unachtsamen Kinderhänden kein Leid geschehen konnte. Es wa­ren Fritz ReutersSämtliche Werke. In der Familie war nie von Reuters Werken schlechtweg, sondern umständlich und sonst beliebte Kürze des Ausdrucks um der Ehrfurcht willen meidend, immer nur von denSämtlichen Werken die Rede. Das Wort sämtlich wurde mir zum Symbol der verschwenderischen Fülle und Lebenserfülltheit überhaupt. Zwischen den Deckeln aller Bücher lag allen Lesekundigen die Fülle des Glücks gespeichert,

und den Wenigen gar, die sämtliche Werke zu schreiben wußten,|

hatte die ewige Seligkeit hernach nichts mehr zu bieten.

Fritz Reuter also hatteSämtliche Werke geschrieben, und

das mochte für ihn selbst über alle Maßen schön sein. Aber ein

unbedingter Gipfel war er mir nicht. Daran konnte auch die_

Begeisterung meines Vaters nichts ändern. Er las uns manchmal aus denLäuschen und Rimels vor, und das war auch ohne jeden Zweifel sehr unterhaltend und spaßhaft. Aber es fehlte doch viel, und die Zusammenhänge waren mir auch durchaus klar: dieser Dichter hieß Fritz, wie ich selbst, und er sprach platt­deutsch, wie ich auch. Bei solchen Gegebenheiten kann dann nicht

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