Mein Bruder mochte da gegenüber dem ganz Urteilslosen der Versuchung erlegen sein, mehr zu geben, als er hatte. Denn immerhin gehörte er trotz des Vorsprunges, um den ich ihn herzlich beneidete, noch nicht zu den„Großen“, von denen eine kleine Auswahl außerhalb des regulären Unterrichts in die„Nachstunde“ ging. Dort hatten die Erwählten, wenn die Algebra zu ihrem Recht gekommen war, auch Aufsätze über tiefsinnige Dichterworte zu schreiben, hatten also die Neigung der argen Welt zum Schwärzen des Strahlenden nachzuweisen an Beispielen a) aus der Religion, b) aus der Geschichte, c) aus der Dichtung, d)„aus dem täglichen Leben“. Soweit diese Ordnung zugleich einen Rang festlegen sollte, war ich mit ihr nicht einverstanden. Die Dichtung war falsch untergebracht, sie hätte an erster Stelle stehen müssen; wohingegen die Beispiele aus dem täglichen Leben unter d) an dem Orte standen, der ihrer Erbärmlichkeit entsprach.
Unter den„Schriften“ der Böttcherkate wurden einige Bände mit besonderer Auszeichnung behandelt. Als Eigentum meines Onkels Fritz waren sie sozusagen aus dem täglichen Verkehr gezogen und hatten ihren Platz auf dem Schrank, wo ihnen von unachtsamen Kinderhänden kein Leid geschehen konnte. Es waren Fritz Reuters„Sämtliche Werke“. In der Familie war nie von Reuters Werken schlechtweg, sondern umständlich und sonst beliebte Kürze des Ausdrucks um der Ehrfurcht willen meidend, immer nur von den„Sämtlichen Werken“ die Rede. Das Wort „sämtlich“ wurde mir zum Symbol der verschwenderischen Fülle und Lebenserfülltheit überhaupt. Zwischen den Deckeln aller Bücher lag allen Lesekundigen die Fülle des Glücks gespeichert,
und den Wenigen gar, die sämtliche Werke zu schreiben wußten,|
hatte die ewige Seligkeit hernach nichts mehr zu bieten.
Fritz Reuter also hatte„Sämtliche Werke“ geschrieben, und
das mochte für ihn selbst über alle Maßen schön sein. Aber ein
unbedingter Gipfel war er mir nicht. Daran konnte auch die_
Begeisterung meines Vaters nichts ändern. Er las uns manchmal aus den„Läuschen und Rimels“ vor, und das war auch ohne jeden Zweifel sehr unterhaltend und spaßhaft. Aber es fehlte doch viel, und die Zusammenhänge waren mir auch durchaus klar: dieser Dichter hieß Fritz, wie ich selbst, und er sprach plattdeutsch, wie ich auch. Bei solchen Gegebenheiten kann dann nicht
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