Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
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Dem tobenden Bettler sogar, der sich im Säuferwahn vor ein­gebildeten Verfolgern in die Werkstatt flüchtete, wurde nicht die Tür gewiesen. Schreiend lief er im Raum von einem Fenster zum anderen. Überall sah er hinter Knicks und Häuserecken die Pik­kelhauben der Gendarmen auftauchen, die das Haus umstellt hielten. Mein Vater bekämpfte diese Wahnvorstellungen mit guten, aber unwirksamen Vernunftgründen, bis er den Unge­bärdigen zuletzt in einer Ecke auf einen Haufen frischer Späne zum Schlafen niedernötigen könnte.

Ein wahnsinniger Straßenmusikant saß stundenlang in der Werkstatt und führte irre Reden. Seine verbeulte und grünspan­beschlagene Trompete wiegte er zärtlich auf den Knien. Sollte sie ihm als Geschenk Sr. Majestät des Kaisers nicht ganz beson­ders wert sein? Aber die Feinde hatten trotz aller Vorsicht von seinen Beziehungen zum Kaiserlichen Hof Wind bekommen. Vor zwei Jahren hatten ihn denn auch richtig die Anarchisten zwischen Eisendorf und Nortorf überfallen und böse zugerichtet. Man wird die Narben am Kopf nun immer ganz deutlich sehen können; denn wo die Anarchisten einmal hingestochen und hin­geschossen haben, da wächst kein Gras und kein Haar mehr. Eine der Narben ist so tief, daß man einen Finger hineinlegen kann. Mein Vater hörte dem sinnlosen Gerede mit geduldigem Erbar­men zu, bestätigte die Größe und Tiefe der Narben, von denen keine Spur zu entdecken war, gab seinem Abscheu vor Anarchisten Ausdruck, bis dem Musikanten der starre, stählerne Glanz aus den Augen hinwegschmolz, bis er erklärte, nun die letzten Bedenken überwunden zu haben. Dann erhob er sich mit einem ruhigen, glücklichen Lächeln, um sich ohne Verzug von der Tochter eines reichen Bauern in Nindorf endlich dassüße Jawort zu holen.

Ich gebe gern zu, daß hier manches in meine Ohren kam, was für sie nicht bestimmt war. Wohl suchten meine Eltern ihre Kinder zu bewahren vor den Gefahren, die aus einem zu frühen Wissen erwachsen können. Aber die Enge des Hauses setzte die-. sen Bemühungen Schranken, und die Enge eines Dorfes macht es fast unmöglich, bedenkliche Ereignisse vor den Kindern zu ver­

bergen. Früh wird das Dorfkind in alle Verwirrungen des Lebens

hineingerissen, und fast möchte ich das dörfliche Leben um dieser Grausamkeit willen preisen. Unter der Hülle seiner ruhi­

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