Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1958) Prosa
Entstehung
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gen Gleichförmigkeit wühlen alle Leidenschaften, und fernab der fahrigen Nervosität, die in den Städten das Leben im eigent­lichen Sinne verdünnt, hat es hier zu jeder Zeit die ganze Dichte seiner Substanz. Da ist wohl Zusammenhalten und Hilfsbereit­schaft und Füreinanderstehen, doch fällt auch einer erbarmungs­los über den anderen her, und die Unbeteiligten lassen an den Schuldiggewordenen mit Wonne Überheblichkeit und Selbst­gerechtigkeit aus. In einem langen Leben aber kommt die Reihe des Schuldigwerdens einmal auch an die gefährlichsten Tugend­bolde. Den Folgen seiner Taten kann sich im Dorf keiner ent­ziehen. Wir Dorfleute wissen zuviel voneinander, und wenn das Böse herzlos und lange genug beredet worden ist, so muß es ein­mal vergeben und für alle Zeit im großen, dunklen Raum des Schweigens vergraben werden. Zuletzt bewährt sich doch die Menschlichkeit der Dorfgemeinschaft, von der zweifelhafte Bu­koliker ohne Kenntnis der Wirklichkeit so rührsame Dinge zu berichten wissen. Sie ist nicht rührselig und idyllisch, die Mensch­lichkeit der Dorfgemeinschaft; sie geht nicht mit unstörbarem Herrscherschritt von allem Anfang her durch die Ereignisse. Sie ist ein Ende, ein schwer erkämpftes Ziel; in ihr sind die Menschen zur Nachsicht mit anderen reif geworden, nachdem sie erkannt haben, daß sie selbst auch der Nachsicht bedürfen.

Aussprüche, die ich als Kind zwischen Tür und Angel aus den Gesprächen der Erwachsenen erhaschte, blieben mir zuweilen durch Jahrzehnte im Ohr, im Vorraum des wirklichen Ver­stehens liegen, bis ich sie eines Tages voll deuten und bedeutungs­voll in das Ganze eines menschlichen Schicksals einfügen konnte. In Luhnstedt kann jedes einzelne Haus den Stoff einer langen Erzählung hergeben. Ich konnte dieses Dorfes Leben leiden­schaftlich mitleben, weil seine Menschen mir alle blutsverwandt sind. Da ich es aber nie mit der gelassenen Selbstverständlichkeit meiner Jugendgenossen hinzunehmen vermochte, da ich vor un­beachteten Einzelheiten sowohl als auch vor der augenfälligen Gesamtheit immer wieder ins Wundern geriet, so meine ich, daß in mir doch auch etwas Fremdes sein muß, von einem ande­ren Blut ein Tropfen, dessen geistige Entsprechung den, der eben noch handelnd inmitten der Handelnden stand, jetzt als Beob­achter an den Rand zwingt, ein Tropfen fremden Blutes, der den

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